STANDARD: 2012, kurz vor dem Kinostart der Doku "The Artist Is Present" in Österreich, haben Sie mir erzählt: "Ich will kein Idol sein. Wenn sie mich idealisieren, dann ist es ihr Problem. Aber in dem Moment, wo sie mich treffen, werden sie erkennen, dass ich anders bin." – Heute, noch mehr als damals, werden Sie als Superstar bezeichnet, jeder Ihrer Schritte wird kommentiert und kritisiert. Ist Berühmtsein ein Fluch?

Abramovic: Es ist gleichzeitig gut und schlecht. Das Negative an solcher Aufmerksamkeit ist das Kreieren von Fake-News. Sie führen in die Irre und nicht zur Essenz meiner Arbeit. Wen kümmert der Ohrring, den ich in der Oper verloren habe? Wikileaks ist ein anderes Beispiel: Manche Zeitungen haben meinen poetisch gemeinten Ausdruck "spirit cooking dinner" in einer E-Mail an Hillary Clintons Wahlkampfmanager in etwas verwandelt, was er nicht ist. Manche schrieben, ich würde schwarze Rituale mit menschlichem Blut durchführen. Aber ich hoffe – Gott sei Dank gibt es Geschichte! –, je länger man lebt und je länger man gute Arbeit macht, umso eher wird die gute Arbeit überleben und nicht der dumme Mist in den Zeitungen. Aber andererseits ist die Bekanntheit gut, weil deine Stimme gehört wird.

Foto: © Dusan Reljin, 2018 Courtesy the artists and Galerie Krinzinger

STANDARD: Um die Performancekunst zu Mainstream zu machen und das MAI, das Marina-Abramovic-Institut, zu finanzieren, haben Sie auch mit Adidas, Lady Gaga und Jay Z kooperiert. War das immer hilfreich?

Abramovic: Alles kann immer eine gute und eine schlechte Seite haben. Lady Gaga wurde 2010 kritisiert, dass sie jetzt zu einem Superstar ins Museum geht. Aber sie ging ins MoMA und hat sich die Ausstellungen angeschaut. Ich habe sie gar nicht getroffen. Sie saß nicht mit mir. Dann wurde getwittert: Lady Gaga ist im MoMA, und alle rasten hin. Sie hat 45 Millionen Follower. Und als sie ging, blieben viele im Museum und wurden auch zu meinem Publikum. Sie besuchte einen Workshop von mir. Und wenn Lady Gaga keine Drogen nimmt, weil sie ein Seminar von mir besucht, dann nehmen auch die Kids keine Drogen. Das ist doch eine gute Sache. Die Kooperation mit Adidas machte ich, weil ich tatsächlich Geld für das Marina-Abramovic-Institute brauchte. Kunst wurde immer schon durch Sponsoring ermöglicht: durch die Päpste, die Medici, Aristokraten. Nun ist es die Wirtschaft. Es ist das Gleiche. Ich weiß nicht, vielleicht hat es damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Ich habe beobachtet, dass Künstler nicht so oft infrage gestellt werden. Es herrscht die Vorstellung, dass ein Künstler arm und abgefuckt sein muss und keine Mode tragen darf, sonst hat er sich verkauft.

STANDARD: Und wenn die Kritik sehr persönlich wird, was macht das mit Ihnen? Sogar Kunstkritiker ätzen und spotten und vergleichen Sie mit einem Guru.

Abramovic: Das bin ich gewöhnt. Als ich mit Performancekunst begann, war ich sehr sehr jung, 19, 20, 21 Jahre alt. Die Kritik war viel schlimmer als heute. Man wollte mich ins Irrenhaus sperren, sagte, das sei ein Desaster, keine Kunst, Nonsens, Masochismus oder Sadismus. Meine Eltern wurden gefragt, was für eine Erziehung ich erhalten habe. Professoren warfen mich aus dem Unterricht. Wenn ich in jenen Tagen 50 Zuschauer hatte, war das schon eine große Sache. Das war meine Öffentlichkeit, meine Plattform, um etwas zu sagen. Nun sind es Hunderttausende. Die Menschen kommen nicht, weil sie schlechte Kritiken gelesen haben, sondern weil sie etwas von mir bekommen. Und was ich von ihnen bekomme und ihnen gebe, also meine Beziehung zum Publikum, ist wichtiger. Also lächle ich über die Kritik und denke mir, dass die Nachrichten von heute, morgen schon die Nachrichten von gestern sind.

"The Hero", 2001.
Foto: © TheMahler.com Courtesy of the Marina Abramoviæ Archives VG Bild-Kunst, Bonn 2018

STANDARD: In Serbien sei die Performancekunst noch immer nicht etabliert, sagten sie mir 2010. Ist in der Zwischenzeit einmal in den Belgrader Tageszeitungen "Politika" oder "Večernje novosti" ein netter Artikel erschienen, der Sie stolz gemacht hat, oder hat sich je jemand für die harsche Kritik entschuldigt?

Abramovic: Nein. Aber meine Retrospektive, aktuell in Bonn, wird insgesamt in sieben Museen gezeigt. Zum Schluss wird sie in Belgrad sein im serbischen Museum für zeitgenössische Kunst, das nach zehn Jahren Restaurierung wieder geöffnet ist. Es ist das erste Mal, dass ich zu einer Ausstellung in meinem Land eingeladen wurde. Ich erinnere mich an die Ausstellung im MoMA 2010. Der serbische Botschafter in den USA wohnte nur drei Blocks entfernt, ist aber nicht gekommen. Die ganze Welt kam, aber er nicht. Schlussendlich gehe ich also zurück nach Serbien. Ich habe gemischte Gefühle dabei, aber ich gehe für die junge Generation hin, nicht für meine eigene.

STANDARD: Würde es Ihnen gar nichts bedeuten, wenn jemand käme und sagen würde: Sorry?

Abramovic: Natürlich. Das würde die Welt für mich bedeuten. Wir würden uns umarmen und küssen. Wissen Sie, Vergebung ist enorm wichtig. Ich und Ulay hatten eine sehr komplizierte Beziehung und dann diese unglaubliche Begegnung im MoMA viele Jahre später. Aber danach verklagte er mich, und wir hatten diesen komplizierten Gerichtsstreit. Ich habe in jedem Punkt verloren. Um mich von dem Streit zu erholen – ich war wirklich sehr verletzt –, fuhr ich weit weg zu einem kleinen Ayurveda-Retreat in Indien. Aber als ich dort ankam, war er mit seiner Frau bereits dort. Das war der Schock meines Lebens: Wir sind beide ans Ende der Welt gefahren, um eigentlich uns zu finden. Ich blieb einen Monat dort, er blieb einen Monat dort, wir mussten um 5 Uhr früh zur Meditation aufstehen. Und während dieses Prozesses dort sind wir wirklich gute Freunde geworden.

STANDARD: War die tägliche Praxis dort eine Hilfe?

Abramovic: Ja, Yoga und Meditation waren eine unglaubliche Hilfe. Es ist sehr leicht, über Vergebung zu sprechen oder darüber in Büchern zu lesen. Aber es selbst zu tun, wenn man wirklich verletzt ist, ist das Härteste. Aber wenn man das tut, ist die Befreiung und das Gefühl von Liebe mit nichts anderem zu vergleichen.

"Portrait with Goat Head", 2018.
Foto: © Marina Abramović Courtesy of the Marina Abramović Archives

STANDARD: In Projekten wie "512 Hours" in der Serpentine Gallery in London haben Sie dem Publikum die Möglichkeit gegeben, Stille und Meditation zu erfahren. Im MoMA haben Sie das Publikum mit Aufmerksamkeit und Zeit beschenkt. Ist das für Sie mit der Zeit, in der wir gegenwärtig leben, verknüpft? Oder: Was ist das Wertvollste, was man den Menschen heute geben kann?

Abramovic: All diese Zuwendung zum Publikum und diese One-to-one-Beziehung wäre vor 20 Jahren kein Thema gewesen, weil die Beziehung zwischen den Menschen noch anders war. Aber jetzt hat sich die Technologie so entwickelt – Technologie hat auch so viele Gefühle auf so drastische Weise ersetzt. Man sieht junge Paare zusammen am Tisch sitzen, die nicht miteinander reden, sondern sich Textnachrichten schicken. Man bemerkt, dass die Leute sich gar nicht mehr sehen, sie haben keinen Augenkontakt, keinen emotionalen Kontakt, sie umarmen sich nicht, sie küssen sich nicht. Es ist eine wirklich sehr befremdliche Situation. Man ist mit einer enormen Einsamkeit konfrontiert. Das war einer der Gründe, warum ich die Ausstellung im MoMA gemacht habe. Nur dort zu sein und für sie dort zu sein, verletzlich und absolut offen, solange sie es brauchten, hat wirklich einen emotionalen Einfluss ausgeübt. Und später hat mich "512 Hours" gelehrt, dass mit der direkte Kontakt mit dem Publikum sehr wichtig ist. Jetzt geht es in meinem Werk nicht mehr um meine Performance, sondern das Publikum – jeder, der kommt, um mich zu sehen – ist meine Arbeit. Das ist zu meinem Anliegen geworden.

STANDARD: Was ist Ihre Quelle der Energie? Was gibt Ihnen Kraft, macht Sie glücklich?

Abramovic: Liebe. Liebe ist das wichtigste Gefühl im Menschen. Wir vergessen, dass wir lieben müssen. Wir haben auch vergessen, dass Glück nicht von außen kommt. Sie kommt auch nicht von der Familie, weil sie wirklich ekelhaft zu dir sein kann. Als Allererstes musst du dich selbst lieben. Liebe kommt aus dem Inneren. Und wenn sie von innen kommt, dann strahlst du wie die Sonne. Und dann ist man bereit, die Welt zu lieben. Wenn man dieses Gefühl, geliebt zu werden und zu lieben, behält und obendrein wirklich im Hier und Jetzt ist, sich – selbst wenn man alt ist – den neugierigen Blick eines neugeborenen Kindes erhält, wenn man sich das behält, dann überrascht man sich immer wieder selbst. (Anne Katrin Feßler, 30.4.2018)