Die Bescheidenheit des Siegerliedes 2017, "Amar pelos dois", von Salvador Sobral hat den portugiesischen Sender RTP veranlasst, auch den gesamten Eurovision Song Contest etwas bescheidener zu gestalten. Das Projektionsbombardement überdimensionierter LED-Wände der letzte Jahre ist in Lissabon Vergangenheit. Es gibt nur Licht. Die Delegationen waren deswegen gezwungen, mehr eigene Kreativität an den Tag zu legen, was zu einer ungewöhnlichen Vielfalt der Darbietungen führte. Manchmal ist weniger tatsächlich mehr.

Die große Favoritin auf den Sieg heute und am Samstag: Netta aus Israel.
Foto: Andres Putting, EBU

Das erste Semifinale am Dienstagabend ist eindeutig das bessere. So ungleich waren die Semis noch nie verteilt. Aber dafür bleibt es heute spannend, denn es werden wohl auch Favoriten purzeln. Das Wort "Blutbad" fällt unter Fans und Vertretern der Presse am häufigsten und beschreibt dieses Semi wohl perfekt.

Portugal hat noch nie den Song Contest ausgerichtet, also zeigt sich das Land – nonanet – von der touristischen Seite. In den Postkarten, die vor jedem Beitrag gezeigt werden, dürfen die Künstler lustige Dinge in schöner portugiesischer Landschaft tun. Nach der reinen Männerrunde in Kiew moderieren dieses Jahr vier Frauen in der Altice Arena. Das atlantische Motiv (nein, Portugal liegt nicht am Mittelmeer!) "All Aboard" dominiert die Produktion.

1. Aserbaidschan: Aisel – "X My Heart"

Eurovision Song Contest

Aserbaidschan scheiterte noch nie und erreichte immer das Finale. 2018 dürfte es aber sehr knapp werden. Aserbaidschan schickt eine Allerweltsproduktion, die man so schon hundertmal gehört hat. Wenn das ins Finale kommen soll, dann unverdient. "Luna, moon me up to the top" ist wohl die schlimmste Lyric-Entgleisung der Song-Contest-Ausgabe 2018 – und wir lieben Entgleisungen!

Tipp: Wackelkandidatin, eher raus

2. Island: Ari Ólafsson – "Our Choice"

Eurovision Song Contest

Island hat ein Lied aus dem Jahr 1996 nach Lissabon gebeamt. Ari Ólafsson ist bestimmt einer der sympathischsten und nettesten Interpreten dieses Jahres und eroberte die Herzen aller Fans vor Ort. Sein Lied schafft das jedoch gar nicht. Sehr öde, was Island uns schickt. Island wartet seit seiner ersten Teilnahme 1986 auf einen Sieg. Es muss mindestens bis 2019 weiter warten. Portugal hat ja gezeigt, dass Geduld manchmal etwas Gutes ist.

Tipp: raus

3. Albanien: Eugent Bushpepa – "Mall"

Eurovision Song Contest

"Mall" ist eine sehr eingängige Folkrock-Nummer, die von Eugent Bushpepa stimmlich sensationell und eindringlich vorgetragen wird. Nach den zwei ersten Songs die erste Wohltat des Abends. Albanien machte sehr oft den Fehler, die Siegersongs vom "Festival i Këngës" ins Englische zu übersetzen. Darauf zu verzichten war eine hervorragende Idee. Auf Albanisch bleibt der Song sehr stark.

Tipp: weiter

4. Belgien: Sennek – "A Matter of Time"

Eurovision Song Contest

Alex Callier von der erfolgreichen belgischen Gruppe Hooverphonic komponierte diesen Song, der zwischen Trip-Hop und James Bond angesiedelt ist. Ein langsam schleichender Song. Belgien schickt seit Jahren Qualität zum ESC, und dafür muss man wirklich Respekt zollen. Sennek hat bei den Höhen manchmal stimmlich etwas Schwächen gezeigt, es ist eindeutig der Song, der punktet.

Tipp: käme immer weiter, in diesem Semi aber leider eine Wackelkandidatin

5. Tschechien: Mikolas Josef – "Lie to Me"

Eurovision Song Contest

Einer der Favoriten kommt dieses Jahr aus Prag. Bisher war Tschechien nicht gerade von Erfolg verwöhnt. So ist der Bewerb bei unseren Nachbarn auch nicht besonders populär. Der in Wien lebende Mikolas Josef kann das ändern. Der junge Mann mit Schulbuben-Image (samt Rucksack) verletzte sich bei den Proben bei einem Backflip und musste deshalb seine Performance bewegungstechnisch stark herunterfahren. Der Song bringt Jason-Derulo-Atmosphäre nach Lissabon. Sehr stark.

Tipp: weiter

6. Litauen: Ieva Zasimauskaitė – "When We're Old"

Eurovision Song Contest

Litauen schickt einen dieser Songs, die sehr schwer einzuschätzen sind. Ganz leise und zerbrechlich singt die Litauerin über das Altwerden mit dem Liebsten. Ob man sich ins Finale flüstern kann, während man fast den ganzen Song über auf dem Boden kauert und am Ende den eigenen Ehemann küsst? Mir gefällt das ja. Aber es wird wohl schwierig.

Tipp: Wackelkandidatin, eher raus

7. Israel: Netta – "Toy"

Eurovision Song Contest

Die große Favoritin auf den Sieg kommt jetzt. Überraschenderweise verzichtet Netta auf ihr Markenzeichen, den Voice Looper, und lässt die Töne zu Beginn von den Backgroundsängerinnen begleiten. Gleich zu Beginn hat der Song die grandiose Zeile "Look at me, I'm a beautiful creature", und er ist voller Empowerment für Frauen. Netta ist eine grandiose Performerin, sie kommuniziert ununterbrochen mit dem Publikum. Die Komposition stammt von Doron Medalie, der bereits 2015 in Wien mit "Golden Boy" punkten konnte.

Tipp: weiter

8. Weißrussland: Alekseev – "Forever"

Eurovision Song Contest

Nach dem israelischen Beitrag singen zu müssen ist keine leichte Übung. Alekseev ist eigentlich Ukrainer und dort wie auch in den Nachbarstaaten der ehemaligen Sowjetunion ein Superstar. Von diesen stimmen in diesem Halbfinale aber nicht so viele ab. Der Song ist eher eine Allerweltsnummer, die nur schwer in Erinnerung bleibt.

Tipp: raus

9. Estland: Elina Netšajeva – "La forza"

Die Sopranstimme und das Projektionskleid aus Estland: Elina Netšajeva wird um den Sieg mitsingen.
Foto: Andres Putting, EBU
Eurovision Song Contest

Einer dieser unberechenbaren Songs, mit denen alles passieren kann: scheitern oder gewinnen. Man muss halt Opernpop-Dings mit Sopranstimmen mögen. Bislang konnten Crossover-Songs noch nie gewinnen, mit den italienischen Tenören von "Il Volo" in Wien 2015 war es nur fast so weit. Man sieht Elina sehr gerne zu. Die Projektionen, die das estnische Budget sprengten und erst in letzter Minute finanziert werden konnten, sind eindrucksvoll, die Sängerin ist enorm charismatisch. Nur, an dieser Art von Song und Stimme werden sich die Geister scheiden.

Tipp: weiter

10. Bulgarien: Equinox – "Bones"

Düsterer Pop aus Bulgarien: Equinox.
Foto: Andres Putting, EBU
Eurovision Song Contest

Es geht Schlag auf Schlag weiter, denn mit Bulgarien kommt gleich einer der nächsten Favoriten. Für mich ist es nach wie vor einer der besten Songs in diesem Jahr, den man gefesselt und gerne bis zum Ende hören möchte. Die Stimmen, extra für den ESC zusammengestellt, harmonieren ganz großartig. "Bones" ist – wie der österreichische Beitrag – von den Symphonics produziert worden. Lediglich die Inszenierung hätte noch etwas besser sein können. Aber ganz sicher ein Favorit, nicht nur heute Abend. Die meisten sehen Bulgarien allerdings nicht mehr als Anwärter auf den Sieg. Ich schon.

Tipp: weiter

11. Mazedonien: Eye Cue – "Lost And Found"

Eurovision Song Contest

Mazedonien hat mehrere Lieder in einen Song zu verpacken versucht. Nach den Songs davor kommt dieser schon sehr seicht rüber. Der Auftritt des als Coverband bekannt gewordenen Duos kann in keinen Belangen überzeugen, mehr fällt mir dazu nicht ein.

Tipp: raus

12. Kroatien: Franka – "Crazy"

Eurovision Song Contest

Das Gute an Kroatien: Es ist so belanglos, dass Cesár danach umso mehr auffällt. Im Vorfeld gab es Aufregung, weil der Komponist den Hook bereits an rumänische Rapper verkaufte, aber alles blieb im legalen Rahmen, und so kann Franka ihr "Crazy" singen. Der Hook ist aber wirklich gut und kostete auch nur rund 90 Dollar, wie die rumänischen Rapper erzählten.

Tipp: eher raus

13. Österreich: Cesár Sampson – "Nobody But You"

Eurovision Song Contest

Möge die Startnummer 13 Glück bringen. Die Komposition von unter anderen Cesár Sampson, Sebastian Arman und Borislav Milanov, der auch den bulgarischen Beitrag geschrieben hat, ist sensationell. Kraftvoll, eindringlich und emotional stellt Cesár seinen Act auf die Bühne, die Inszenierung lässt ihn von einer Empore langsam hinuntergleiten, und er nähert sich nach und nach dem Publikum. Wir haben es mit einem Künstler zu tun, der fast immer im Hintergrund war. Seine Entscheidung, nun nach vorne zu treten, war genau richtig. Die stimmliche Klangfarbe erinnert an Kwabs, sein Auftritt ist enorm überzeugend. Ich bin sehr zuversichtlich.

Tipp: weiter

14. Griechenland: Gianna Terzi – "Oneiro Mou"

Eurovision Song Contest

Griechische Sängerinnen müssen weiße Kleider tragen. Grundsätzlich. Immer. Der griechische Beitrag war so einer, den man vor dem Bewerb gerne hörte, der sogar als kleiner Geheimfavorit gehandelt wurde, der bei der Umsetzung auf der Bühne aber stark verloren hat. Die Stimme der Tochter des griechischen Superstars Paschalis Terzis schwächelte in den Proben häufig. Der Song wäre zweifelsohne schön.

Tipp: eher raus

15. Finnland: Saara Aalto – "Monsters"

Eurovision Song Contest

Saara Aalto ist in Großbritannien nach der Teilnahme an der Castingshow "X-Factor UK" sehr populär. Daher kam sie als eine Favoritin nach Lissabon. Wenn eine Favoritin in diesem Semifinale allerdings scheitern sollte, dann tippe ich auf diesen Beitrag. Sie will eine Art Lady Gaga sein, die als Kunstfigur Diversität feiern möchte, doch das Problem: Man sieht nicht gerne zu, und ihre Stimme schwappt manchmal ins Schrille. Schade.

Tipp: raus

16. Armenien: Sewak Chanaghjan – "Qami"

Sewak Chanaghjan aus Armenien wird um den Einzug ins Finale singen.
Foto: Andres Putting, EBU
Eurovision Song Contest

In jedem Semi käme das ins Finale. Aber dieses Semi ist nun einmal eine Herausforderung. Für den sympathischen Sänger aus Armenien wird es schwer. Er singt unglaublich kraftvoll, der Song reißt mit und ist sehr emotional. Eine ernste Sache, dieser Beitrag. Mich überzeugt der Song, also bin ich mal optimistisch.

Tipp: eher weiter

17. Schweiz: Zibbz – "Stones"

Eurovision Song Contest

Die Schweiz könnte nach schwachen Ergebnissen wieder ein Erfolgserlebnis brauchen. Mit den Zibbs gelingt jedenfalls eine Steigerung gegenüber den Vorjahren, aber wirklich überzeugen mag das noch nicht. Das Outfit erinnert eher an freizügige Balkan-Acts aus den frühen 2000er-Jahren.

Tipp: raus

18. Irland: Ryan O'Shaughnessy – "Together"

Eurovision Song Contest

So bedient man das ESC-Publikum. Man schickt einen Sänger, der über Frauen singt, erzählt aber im Video die Geschichte eines schwulen Paares. Das war eine kluge Marketingstrategie, die das Lied aber nicht retten wird. Zu belanglos plätschert der Song über die Bühne und wird die irische ESC-Krise – einst so erfolgreich und bis heute das Land mit den meisten Siegen – prolongieren. Sein Onkel, der 2001 beim Song Contest Irland vertrat und den 21. Platz erreichte, bleibt wohl der Erfolgreichere der Familie.

Tipp: raus

19. Zypern: Eleni Foureira – "Fuego"

Eurovision Song Contest

Zyperns Eleni Foureira kam relativ unbeachtet nach Lissabon (außer von Eberhard Forcher, der diesen Song immer schon lobte) und wurde bei den Proben ein absoluter Shootingstar. Der Song ist von allen Dance-Nummern sicher einer der besten. Die Ethno-Elemente, die Breaks, der treibende Beat: ein sehr guter Song. Etwas weniger Make-up wäre auch okay gewesen. Pyro kann der Song freilich nicht genug haben. Sehr guter Abschluss des Semis.

Tipp: weiter

You cannot vote for your own country: ein wunderschöner Satz des Eurovision Song Contest. Sie haben also die Wahl. Für wen werden Sie stimmen? (Marco Schreuder, 8.5.2018)