Öffentliche Trauer um Londons jugendliche Opfer.

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Großes Potenzial habe Rhyhiem gehabt, sagt Pretana Morgan: "Ich hätte mir keinen besseren Sohn wünschen können." Vergangenes Wochenende wurde der 17-Jährige bei einem Fußballspiel in Südlondon angeschossen. Er schleppte sich schwer verletzt in eine Nebenstraße, wo er starb. Morgan hat nur einen Wunsch: "Ich will keine schwarzen Kinder mehr am Straßenrand liegen sehen. Bitte hört damit auf, lasst ihn den Letzten sein."

Tags darauf, am Sonntag, ist die inständige Bitte der Londonerin Makulatur. Im Nordwesten Londons wird ein 13-Jähriger von Schrotkugeln getroffen. Ein anderer Jugendlicher wird mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Beide sind offenbar Zufallsopfer eines "rücksichtslosen, kaltschnäuzigen" Täters, so Scotland Yard. Kaum 24 Stunden später muss die Mordkommission schon wieder ausrücken: Diesmal liegt ein 16-Jähriger in seinem Blut, niedergestochen in einem Park von zwei Räubern. Das Opfer ringt im Spital mit dem Tod.

Vergleich mit New York hinkt

Alle Bluttaten geschahen am helllichten Tag, Teil einer schrecklichen Serie, die nicht nur die Hauptstadt in Atem hält, sondern längst auf andere Regionen überschwappte. Über das Wochenende wurden auch in Liverpool und Luton je ein 20-Jähriger durch Messerstiche getötet. Die Aufmerksamkeit der Medien konzentriert sich aber auf London, das laut konservativer Sunday Times inzwischen "ein bisschen wie früher New York aussieht".

Statistiker halten das für übertrieben, lag doch die Zahl der Tötungsdelikte im Big Apple 2017 bei 292 und war damit doppelt so hoch wie in London (130). Immerhin zog die britische Metropole im Februar und März an der Stadt jenseits des Atlantiks vorbei. Krankenhäuser wie das Royal London im Londoner East End haben Hochkonjunktur. Im vergangenen Jahr zählten die Mediziner dort die Rekordzahl von 702 Patienten mit Messerstichen. Waren es früher vor allem Leute in den Zwanzigern, sind es nun oft schon Teenager. Allzu häufig gehören Opfer wie Täter ethnischen Minderheiten an, wie Polizeidirektor Martin Hewitt konstatiert. "Und ich fürchte, dass uns deshalb das kollektive Gefühl der Empörung fehlt", gibt der erfahrene Einsatzleiter von Scotland Yard zu bedenken.

Kritik an Sparpolitik

Die Polizei und die zuständigen Politiker geben sich entschlossen, der Gewaltepidemie Einhalt zu gebieten. Auf Anweisung des Londoner Labour-Bürgermeisters Sadiq Khan patrouillieren mehr Beamte in den Straßen der Metropole. Man werde "ohne Pause dafür arbeiten", der Welle von Gewaltverbrechen Einhalt zu gebieten. Auch der seit einer Woche amtierende konservative Innenminister Sajid Javid bietet seine Hilfe an im Kampf gegen das Verbrechen, "das zu viele junge Leute ihrer Zukunft beraubt".

Kritiker des Regierungskurses, zu denen auch Khan zählt, halten dagegen: Die Sparpolitik der heutigen Premier- und früheren Innenministerin Theresa May habe die Zukunftsaussichten junger Leute in der Hauptstadt schon seit Jahren so verengt, dass viele Zuflucht in Gangs suchen. "Nachmittagsbetreuung für Schüler aus Problemfamilien, Sozialzentren für Leute mit psychischen Problemen, Jugendclubs – allzu viel davon wurde geschlossen", sagt Khan. Unter Mays Ägide sank auch die Zahl der sogenannten "Bobbys" auf Streife vielerorts um 15 Prozent. Weil gleichzeitig bei vielen Deliktformen die Kriminalitätsbelastung zurückging, feierten die Tories jahrelang den Produktivitätszuwachs der Polizei. Seit der Trendumkehr aber sieht es gefährlich danach aus, als seien wichtige Expertise und der vertrauensvolle Kontakt mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Millionenstädten wie London verlorengegangen. (Sebastian Borger aus London, 8.5.2018)