An einem Mittwoch im April steht Matthis Kattnig zur Stoßzeit an einer Straßenkreuzung im Zentrum Tel Avivs und tut, was alle rings um ihn tun – nichts. Kein Hupen, kein Fluchen, keine Motoren, die aufheulen. Nur eine Sirene, die das Gewusel auf den notorisch überlasteten Straßen der israelischen Küstenmetropole für zwei Minuten zum Innehalten bringt.

Wenn die Sirene erschallt, hält Israel für ein paar Minuten inne.
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Kattnig, 21, Klagenfurter, Absolvent einer Multimedia-Schule, gläubiger Christ und seit neun Monaten Gedenkdiener in Israel, hat den 70. Unabhängigkeitstag des jüdischen Staates so begonnen wie die meisten Israelis. In Stille verharrend. "Ich glaube nicht, dass viele andere Länder ihre Bürger dazu bringen, ihren Alltag wegen eines Gedenktages für zwei Minuten zu unterbrechen", sagt er.

Dabei ist das Gedenken, konkret der Opfer des NS-Massenmords an den Juden, gerade für ihn dieser Tage alltäglich. Bis Ende Mai dient Kattnig im fernen Israel noch dem Staate Österreich – als einer von aktuell etwa drei Dutzend jungen Männern, die ihrer Pflicht als Gedenkdiener rund um die Welt nachkommen.

Vier davon in Israel. Neben dem Pinchas-Rosen-Altersheim im Tel Aviver Vorort Ramat Gan, wo Kattnig alte, aus Österreich und Deutschland vertriebene Juden betreut, mit ihnen spazieren geht, ihnen beim E-Mail-Schreiben und bei Arztbesuchen hilft und sie unterhält, seit 1992 auch in Yad Vashem, der zentralen Holocaust-Gedenkstätte in der Hauptstadt Jerusalem.

Im Jänner eröffnete in Yad Vashem eine neue Ausstellung: "Flashes of Memory – Photography during the Holocaust".
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Von Auschwitz bis Los Angeles

Anstatt des Wehr- oder Zivildienstes haben seit 1992 hunderte Österreicher ihre Pflicht am Vaterland als Gedenkdiener weitab von Österreich erfüllt – und das trotz der mit aktuell zehn Monaten längeren Dienstdauer. Seit einigen Jahren können auch die – nicht wehrpflichtigen – Frauen Gedenkdienst leisten. Von der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, dem ersten Einsatzort, und dem Berliner Holocaust-Museum über das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles bis eben nach Yad Vashem in Jerusalem.

Ausgerechnet Israel. Dominik Sölkner, Imster, 21, Hak-Absolvent, ist dort seit vergangenem August in der Bibliothek beschäftigt, er katalogisiert historische Dokumente, hilft bei der Neugliederung der alten Bestände und rückt Regale zurecht – echte Zivildienerarbeit eben.

Dominik Sölkner, Gedenkdiener in Yad Vashem, Jerusalem.
Foto: Privat

Sowohl der Tiroler als auch der Kärntner berichten von großem Interesse, mit dem man ihnen als Österreichern, die sich für die Opfer der NS-Diktatur einsetzen, in Israel begegnet. Es seien Namen wie Bruno Kreisky, Kurt Waldheim und Jörg Haider, die vielen Israelis auf der Zunge liegen, wenn sie an Österreich denken. Jener Hitlers gehört nicht dazu.

"Noch mehr erstaunt die Leute hier aber, dass ich in Israel meinen Gedenkdienst mache, obwohl ich nicht jüdischen Glaubens bin", erzählt Sölkner, der in Jerusalem ein Zimmer einer Wohngemeinschaft mit gläubigen Juden bewohnt. "Das bedeutet, dass ich zum Beispiel Lebensmittel, die Milch beinhalten, und Lebensmittel, die Fleisch beinhalten, separat in dem dafür vorgesehenen Geschirr kochen und essen muss." Am Schabbat, also von Freitagabend bis Samstagabend, dürfe er überhaupt nicht kochen.

"Wichtiges Zeichen"

Für einen Tiroler durchaus exotische Sitten. Und doch gehe es beim Gedenkdienst auch gerade darum, sagt Talya Lador-Fresher, Israels Botschafterin in Wien: "Junge Österreicherinnen und Österreicher werden einerseits mit der dunklen Seite der Geschichte Österreichs konfrontiert, lernen aber auch Israel kennen und setzen sich mit der gemeinsamen Geschichte beider Länder auseinander." Der Gedenkdienst, ergänzt sie, sei ein wichtiges Zeichen des offiziellen Österreich, in welche Richtung Österreich sich entwickelt.

Für den Innsbrucker Politikwissenschafter Andreas Maislinger, zu Beginn der Neunzigerjahre Initiator und Gründer des Gedenkdienstes und heute Vorsitzender des größten Trägervereins namens Österreichischer Auslandsdienst, stand von Anfang an fest, dass Yad Vashem – neben Auschwitz – ein zentraler Ort des Gedenkens für die jungen Österreicher werden muss. "1978 war ich als 23-jähriger Student im Kibbuz Kfar HaHoresh in der Nähe von Haifa, und seither bin ich Israel stark verbunden", sagt er. Ab 2019 will sein Verein über eine Kooperation mit einem israelischen Partnerverein bis zu zwanzig Österreicherinnen und Österreicher nach Israel entsenden.

Gedenkdiener Kattnig auf einem der vielen Märkte in Tel Aviv.
Foto: Privat

Der Holocaust, für die beiden aktuellen Gedenkdiener Kattnig und Sölkner ohnehin Hintergrund ihres Tagwerks, sei auch sieben Jahrzehnte danach im israelischen Alltag noch präsent. "Ich werde immer wieder gefragt, ob ich auch Verwandte verloren habe", erklärt Yad-Vashem-Gedenkdiener Sölkner, den schon als Kind der Hollywoodfilm "Schindlers Liste" an das Thema herangeführt hat.

Und Kattnig, nebenbei gelegentlich für einen deutschen Fernsehsender tätig, fügt an: "Gerade weil ich aus Österreich komme, wollen die Israelis mit mir nicht nur übers Skifahren reden, sondern erzählen mir von Bekannten, die den Holocaust überlebt haben oder die umgebracht wurden."

"Die Sprache ihrer Jugend"

Kattnig, der in seiner Freizeit eine messianische Kirchengemeinde im arabischen Stadtteil Jaffa besucht, berichtet von Klienten, die zwar Deutsch können, es aber nicht sprechen wollen – der schmerzlichen Erinnerungen wegen. Von den 120 Bewohnern des Altenheims, die jüngste 70 und der älteste 102, sind nur mehr ein gutes Dutzend selbst Überlebende des Holocaust.

"Manche fangen von sich aus an, über ihre Vertreibung aus Österreich zu erzählen", sagt er. "Zum Teil wollten diese Menschen jahrelang nichts von der deutschen Sprache mehr wissen. Andere freuen sich, dass sie im Alter wieder die Sprache ihrer Jugend mit mir üben können."

Der Strand von Tel Aviv ist auch bei Gedenkdienern ein beliebter Ort für freie Stunden.
Foto: imago/robertharding

Die hohen Lebenshaltungskosten – Kattnig bewohnt ein WG-Zimmer am Stadtrand von Tel Aviv – und der omnipräsente Stau auf den Straßen der Stadt machen ihm freilich mehr zu schaffen als die meist abstrakte Terrorgefahr. "Es wirkt in Tel Aviv diesbezüglich nicht gefährlicher als in Berlin oder Paris", sagt Kattnig. "Paradoxerweise fühle ich mich mit der hohen Militär- und Polizeipräsenz und den strengen Kontrollen vor öffentlichen Gebäuden wie Busbahnhöfen oder Museen sicherer als ohne", ergänzt Sölkner.

Überhaupt, so die beiden Österreicher an der Levante, biete ihre Heimat auf Zeit mannigfaltige Möglichkeiten, was Ausflüge betrifft, das Tote Meer etwa, den See Genezareth, die Wüste Negev. Wenn denn Freizeit bleibt. (Florian Niederndorfer, 11.5.2018)