"Wir sprechen nicht vom ORF, wir sprechen von einem öffentlich-rechtlichen System für das 21. Jahrhundert": Corinna Milborn und Markus Breitenecker von ProSiebenSat1Puls4 über ihr am Montag erscheinendes Buch "Change the Game" (Verlag Brandstätter).

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Visionär und anstrebenswert fand Medienminister Gernot Blümel (ÖVP) Markus Breiteneckers Ideen schon vor Monaten. Ende kommender Woche lädt Blümel zur Regierungsenquete über die künftige Medienpolitik. ProSiebenSat1Puls4-Geschäftsführer Breitenecker und ProSiebenSat1Puls4-Infodirektorin Corinna Milborn präsentieren am Montag ihr Buch "Change the Game" (Verlag Brandstätter). Kein Lobbyingpapier eines privaten Medienhauses, sagt Breitenecker. Auch wenn sich manche Forderung mit dem jüngsten Positionspapier des Privatsenderverbands deckt.

Öffentliches Geld etwa – Rundfunkgebühr oder aus dem Bundesbudget – soll verstärkt an Private fließen, wenn sie Programme im öffentlichen Interesse produzieren. Der ORF soll sich stärker auf öffentlich-rechtliche Kernprogramme, vor allem Info und Kultur, beschränken. Nach dem Motto: Was kein Privater machen will (oder kann), soll der Öffentlich-Rechtliche machen – beim Public-Value-Programm und auch bei Premiumsport oder Shows.

STANDARD: Stellen Sie sich vor, ich bin eine gute Fee. Und ich kann Ihre Vorstellungen für die Medienbranche erfüllen. Unter der Bedingung: Sie erklären mir in drei, vier Sätzen, was Sie wollen. Sie können sich alternativ auch gern vorstellen, ich bin Medienminister Gernot Blümel.

Milborn: Besser die gute Fee. Das lässt sich nicht allein in Österreich lösen.

Breitenecker: Man muss Google und Facebook als Medienmonopole verstehen, erkennen, welche Gefahren von ihnen ausgehen, und daraus Konsequenzen ziehen. Der Newsfeed von Facebook und Autoplay von Youtube sind nach jeder Definition Medien. Die Herausgeber Facebook und Youtube müssen Verantwortung übernehmen dafür, was auf ihren Medienplattformen passiert. Zusätzlich bräuchte es Wettbewerb. Dafür braucht es alternative Angebote. Und für solche Social-Media-Alternativen müssten sich die Medien in Europa zusammenschließen. Das wird nicht im Einzelkampf oder gar Konkurrenzkampf der heimischen Gartenzwerge funktionieren, sondern nur in europäischen Allianzen. Und indem wir die Idee öffentlich-rechtlicher Medien neu denken.

Milborn: Ich würde es andersrum sagen: Wenn wir Grundsätze entwickelt haben wie Medienrecht, Medienvielfalt und die öffentlich-rechtliche Idee als Alternative zu privaten Monopolen – dann sollten wir diese Grundsätze auf die digitale Welt übertragen. Und die liebe Fee müsste recht schnell machen, weil Europa überrollt wird von Medien, die mit unseren Werten und unserer Demokratie nichts zu tun haben.

STANDARD: Sie haben in Ihrem Buch "Change the Game" aber auch eine lange Reihe von Forderungen, für deren Umsetzung ein österreichischer Medienminister und eine österreichische Regierungsmehrheit reichen sollten. Und kommende Woche gibt es eine Medienenquete dieser Regierung. Welche Wünsche darf ich Ihnen als Gernot Blümel erfüllen?

Breitenecker: Man muss unterscheiden zwischen dem, was wir als Autoren in diesem Buch geschrieben haben, und einem medienpolitischen Lobbyingpapier eines privaten Medienhauses. Das Buch "Change the Game" ist der Versuch, von der reinen Interessenpolitik wegzugehen. Das Buch beschreibt nicht die Agenda des Verbands österreichischer Privatsender für die Medienenquete.

STANDARD: Ich kann auch gern eine österreichische Fee darstellen, wenn Sie mir dann kompakt erklären, was Sie an Maßnahmen vorschlagen. Zum Beispiel, wie Sie öffentlich-rechtlich neu definieren wollen.

Milborn: Das öffentlich-rechtliche System ist dafür da, möglichst viel Public Value herzustellen, möglichst viel Information und Kultur an die Bevölkerung zu bringen, und das in Zeiten von sich entbündelnden Kanälen. Statt in Zeiten von on demand die lineare Programmierung öffentlich-rechtlicher Kanäle mit viel Geld und Energie zu verteidigen, sollte es um möglichst gute öffentlich-rechtliche Inhalte in der gesamten Medienlandschaft gehen. Die dafür zuständige Institution bekommt Punkte, wenn irgendwo Public Value läuft – auch wenn es nicht im eigenen Kanal ist und egal ob in Radio oder Fernsehen, Print oder Online.

STANDARD: Bedeutet das: Der Öffentlich-Rechtliche ist vor allem Produzent und bietet Puls 4 oder ATV oder Servus TV Programme an?

Breitenecker: Nein. Wir wollen, dass mit öffentlichem Geld, in dem Fall Rundfunkgebühren, möglichst viel Public Value auf möglichst allen Kanälen und europäischen Anbietern erzeugt und hergestellt wird. Das heißt: Öffentliches Geld, Medienförderungen, öffentliche Werbebuchungen sollten verwendet werden, um Public Value zu produzieren. Damit meinen wir Qualität im Sinne des Gemeinwohls. Mit öffentlichem Geld soll aber kein Kommerz finanziert werden. Derzeit ist juristisch jeder Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Senders öffentlich-rechtlich und jeder Inhalt eines privaten Senders privat und kommerziell. Wir wollen nicht das öffentlich-rechtliche System kleinmachen aus subjektiven Partikularinteressen. Wir wollen es ausweiten auf möglichst viele Publisher und Kanäle. Aber nicht auf jene Medienplattformen, die sich nicht an europäische Mediengesetze, Werte und Richtlinien halten. Öffentlich finanzierte Inhalte dürfen nicht Google, Facebook und Youtube geschenkt werden.

STANDARD: Welche Aufgabe hat der ORF dann in dem Konzept noch?

Milborn: Wir sprechen nicht vom ORF, sondern von einem öffentlich-rechtlichen System für das 21. Jahrhundert. Drei Grundaufgaben: Er liefert erstens in einem klar definierten Auftrag Information und Kultur mit eigenen Redaktionen und eigenen Produktionen und eigenen Kanälen. Er soll zweitens dafür sorgen, dass möglichst viel Public Value im Land und in Europa stattfindet.

STANDARD: Wie sorgt er dafür?

Milborn: Indem man definiert, was Public Value ist, und zum Beispiel in einem Antragssystem wie in der Kunstförderung oder Filmförderung mit Jurys Aufträge und Mittel vergibt, wie jetzt schon für Public Value im Privatfernsehen. Denn die vorhandenen Fernsehkanäle werden nicht ewig aufrechtzuerhalten sein, vor allem für junge Generationen. Also ist es besser, wenn die öffentlich-rechtliche Institution Public-Value-Inhalte fördert und eventuell mitfinanziert, die auch woanders stattfinden können, wenn sie einer Qualitätsprüfung standhalten.

STANDARD: Die dritte Aufgabe?

Milborn: Investition in Innovation. Bisher baut das öffentlich-rechtliche System vor allem auf Fernsehen und Radio und ist sonst extrem eingeschränkt. Das ist überholt. Es macht einen Unterschied, ob eine Medienplattform in den USA, Europa oder China sitzt. Nur in Europa wird sie sich an die Regeln halten. Dann muss es jemand machen.

STANDARD: Und die öffentlich-rechtlichen Anstalten sollen nun mit Gebührengeld ein europäisches Facebook, ein europäisches Youtube, ein europäisches Google entwickeln?

Breitenecker: Nachmachen wird nicht ausreichen, Öffentlich-Rechtliche sollten zusammen mit Privaten die nächste Innovationsstufe kofinanzieren. Wir wollen nicht dem Öffentlich-Rechtlichen Geld entziehen, damit die Profite der Privaten gestärkt werden. Wir wollen das öffentliche Geld, das derzeit in den Konkurrenzkampf, in Kleinkrieg um Kommerzrechte fließt, die auch der Markt finanziert, sparen und investieren in neue Public-Private-Partnership-Entwicklungsprojekte, um eine europäische Social-Media-Plattform der nächsten Generation zu bauen. Wir brechen damit das amerikanische Monopol. Das wäre eine Umwidmung eines Teils der Rundfunkgebühren, um unseren Rückstand aufzuholen. Allein mit privaten Investitionen oder Investitionen einzelner Länder wird uns das nicht gelingen.

STANDARD: Wer soll diese europäischen Plattformen – Social Network, Suchmaschine, Streamingdienst und so fort – betreiben, wem sollen sie gehören?

Breitenecker: Public-Private-Partnerships. Es gibt ja Ansätze. Möglicherweise gibt es da eine Renaissance des Genossenschaftsgedankens. In Zeiten dezentraler Vertrauensnetzwerke – siehe Blockchain – geht es darum, eine Vertrauensplattform zu schaffen, auf der verschiedene Anbieter ihre Inhalte präsentieren und vermarkten können.

STANDARD: Was sagt denn das Wettbewerbsrecht dazu?

Breitenecker: Theodor Thanner, Chef der Wettbewerbsbehörde, und EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, mit denen wir für das Buch gesprochen haben, beschäftigen sich intensiv mit der Problematik des Wettbewerbsrechts im digitalen Datenzeitalter und deuten an, dass man umdenken muss. Bei Zusammenschlüssen geht es nicht um die nationalen Märkte und Umsatzgrößen, sondern um die globale Datenmacht. Hier würde durch Zusammenschlüsse Wettbewerb entstehen gegen die globalen Monopolisten Facebook, Google/Youtube und Amazon in ihren Sektoren.

STANDARD: Zum Konkurrenzkampf der Gartenzwerge um Rechte noch: Man stelle sich vor, ProSiebenSat1Puls4-Chef Markus Breitenecker plädiert in seinem Buch dafür, Gebührengeld einzusetzen, damit Premiumsport nicht im Pay-TV verschwindet.

Milborn: Wenn man sich darauf einigt, dass das Public Value ist. Ich bin da ja nicht so sicher, aber viele Leute finden das. Fußballrechte sind nur ein Beispiel: Man muss sich als Gesellschaft darauf einigen, was produziert und gezeigt werden soll. Das kann Oper sein oder auch Skifahren, wenn es als identitätsstiftend identifiziert wird. Wenn man das etwa mit Sponsorengeldern privat finanzieren kann – umso besser.

Breitenecker: Das gilt natürlich nicht für die Information – da soll es möglichst große Vielfalt geben. Public-Value-Programme, die es nur einmal gibt, bis hin zu Showformaten wie "Strictly Come Dancing" soll übernehmen, wer möglichst wenig Gebührengeld dafür einsetzt. Damit soll möglichst viel Geld für nicht vom Markt finanzierbare Public-Value-Programme freigemacht werden, und vor allem für die Entwicklung von europäischen Social-Media-Destinationen.

STANDARD: Das klingt alles nach einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit weniger Sport, weniger Kauffilmen und -serien, weniger Shows, aber mit viel Kultur und Information. Sie sagen, Sie wollen keine ORF-Kanäle privatisieren – aber vier TV- und 13 Radioprogramme dürfte der ORF dafür nicht mehr brauchen. Und wenn man sie alle weiterhin nach Ihren Vorstellungen füllen will, ist das jedenfalls nicht viel günstiger als bisher. Und das Gebührengeld soll – weit mehr als bisher – zwischen ORF und Privaten aufgeteilt werden, und europaweit sollen Milliarden, jedenfalls auch aus Gebühren, in die Entwicklung neuer Social-Media-Plattformen gehen. Wie geht sich das denn aus?

Breitenecker: Das geht sich natürlich aus. Man müsste halt auch in der Unterhaltung in den Qualitätssektor gehen – "Borgen" und "House of Cards" sind die prominentesten Beispiele für Public-Value-Unterhaltungsprogramm. Da gibt es mehr als genug.

Milborn: Man muss sich von der Idee der 1950er- oder 1970er-Jahre lösen, dass man den eigenen schrumpfenden Kanal und dessen Marktanteile mit allen Mitteln verteidigt. Das ist vorbei. Nicht heute, aber bald. Die treibende Kraft für Öffentlich-Rechtliche müsste sein, möglichst viel möglichst gutes Programm zu machen oder zu ermöglichen, wie der ORF schon heute Kinofilme ermöglicht.

STANDARD: Das heißt, der ORF soll öffentlich-rechtliche Programme in anderen Kanälen und auf anderen Plattformen mit Gebührengeld unterstützen?

Milborn: Nicht öffentlich-rechtliche, sondern Public-Value-Inhalte, und wir gehen im Buch sogar so weit, die Idee vorzuschlagen, dass man die Förderung dieser Public-Value-Inhalte beim ORF selbst beantragen könnte.

STANDARD: Puls 4 beantragt dann beim ORF Gebührengeld für die nächste Staffel "Bist du deppert" oder Wahlkonfrontationen?

Milborn: Man kann das auch der unabhängigen Medienbehörde überantworten. Aber wir hielten es für eine interessante Variante, wenn dies zum neuen Funktionsauftrag des Öffentlich-Rechtlichen gehörte.

Breitenecker: Natürlich wäre das ein Interessenkonflikt. Aber wenn der Öffentlich-Rechtliche selber entscheiden muss, wohin gebe ich das Geld – da bekommt er eine behördenähnliche Funktion. Da wäre es vielleicht sinnvoller, das in eine unabhängige Behörde zu geben. Aber der Interessenkonflikt ist natürlich alte Denke. Wenn man den Kooperationsgedanken ernst nimmt und die öffentlich-rechtliche Aufgabe lautet, Qualitätsinhalte auf europäischen Kanälen zu ermöglichen, dann könnte eine pluralistisch zusammengesetzte, unabhängige Jury innerhalb des öffentlich-rechtlichen Anbieters diese Vergabe organisieren.

Milborn: "Funk" von ARD und ZDF ist in etwa so gedacht. Jugendliche sitzen nicht vor dem Fernseher, also versucht man öffentlich-rechtliche Inhalte auf andere Kanäle zu bringen. Aber wir haben dafür keine europäischen Kanäle. Deshalb nutzt "Funk" Youtube und Facebook – und beugt sich aber damit deren Mechanismen, die Populistisches und Plattes begünstigen. Dafür braucht es europäische Plattformen.

STANDARD: Sie wollen diese Inhaltsförderung für alle Medien – also etwa auch textbasierte?

Breitenecker: Die öffentlich-rechtliche Idee könnte unabhängig von Mediengattungen organisiert sein. Sie bringt, fördert und kuratiert Public-Value-Inhalte in allen Mediengattungen. Die Grenzen verschwimmen ohnehin. In dieses neue System wären bisherige Verlage, reine Onlinemedien, TV-Sender, Radiosender, Streamingdienste, Social-Media-Projekte inkludiert.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, der ORF solle "radikal unabhängig" werden. Wie soll das gehen?

Breitenecker: Wirtschaftlich, politisch und journalistisch. Wirtschaftlich ...

STANDARD: ... möchten Sie seine Einnahmen aus Werbung auch für die Entwicklung von Social-Media-Plattformen zweckbinden ...

Breitenecker: ... um im Sinne von Öffentlich-Rechtlichen und Privaten etwas Eigenes aufzubauen.

Milborn: Politisch ist das eine Frage der Aufsichtsgremien. Das ist bisher in Österreich nicht im nötigen Maß umgesetzt.

STANDARD: Sie wollen maximal 50 Prozent der Mandate von politischen Institutionen besetzen lassen.

Milborn: Zum Beispiel. Dort sollten mehr Leute sitzen aus der Medien- und Filmbranche, die sich inhaltlich auskennen und ein Interesse an der Weiterentwicklung des Öffentlich-Rechtlichen haben. Die Frage ist: Welche Regierung nimmt sich hier die Macht?

STANDARD: Sie plädieren dafür, die bestehenden Abgaben von sieben Bundesländern auf die GIS-Gebühren in ihr Medienfördersystem umzuleiten.

Breitenecker: Das ist einer der wenigen Punkte, in denen Totalkonsens herrscht.

STANDARD: Außer bei den Bundesländern, die damit um die 150 Millionen Euro pro Jahr einnehmen. ÖVP und FPÖ überlegen, die GIS-Gebühren zu streichen und den ORF aus dem Bundesbudget zu finanzieren. Nach Ihrem Buch zu schließen, sind Sie für die Beibehaltung der Gebühren.

Milborn: Diese Finanzierung darf jedenfalls nicht Spielball wechselnder Regierungen und der Tagespolitik sein. (Harald Fidler, 2.6.2018)