Othmar Karas mit Sebastian Kurz im Juni 2017. Ob Karas wieder Spitzenkandidat der ÖVP sein wird, ist noch offen.

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Der Europawahlkampf 2019 ist eröffnet. Bis zur Stimmabgabe zwischen 23. und 26. Mai nächsten Jahres ist zwar noch viel Zeit – in Österreich wird am Sonntag den 26. Mai gewählt. Aber der enge Zeitplan auf der EU-Agenda, der dringend nötige Brexit-Abschluss, der Druck durch das ungelöste Migrationsproblem, die Nervosität auf den Finanzmärkten wegen der Populistenregierung in Italien: Das alles hat dazu geführt, dass Europas Parteienfamilien bereits heftig daran arbeiten, ihre Strategien und Personalpläne für die Neuordnung im Europäischen Parlament und dann auch der EU-Kommission zu entwerfen.

In den Monaten unter österreichischer EU-Ratspräsidentschaft muss jetzt was weitergehen, sonst könne man nur schwer vor die Wähler treten, heißt es in Brüssel und Straßburg. Sonst drohe den traditionellen Parteien ein Desaster.

"Studientagung"

Den Anfang machte an diesem Wochenende die Europäische Volkspartei (EVP) mit einer "Studientagung" in München. "Parteienfamilien" nennt man die Zusammenschlüsse von nationalen Einzelparteien, obwohl diese inhaltlich und traditionell nicht immer zu hundert Prozent zusammenpassen. Im EU-Parlament, wo sich das ablesen lässt, tummeln sich zum Beispiel acht Fraktionen, in denen sich insgesamt rund 150 Einzelparteien aus den 28 Mitgliedsländern finden. Dazu kommen einige (extrem rechte) Fraktionslose.

Bei der EVP, den Christdemokraten, wo sich auch ÖVP und CDU/CSU wiederfinden, gibt es derzeit zum Beispiel eine heftige interne Debatte, ob die ungarische Fidesz von Premierminister Viktor Orbán wegen ihres strammen Rechtskurses überhaupt noch dazu passt. Umgekehrt wollen einige nationale Delegationen, dass man sich überlegen sollte, auch noch die nicht weniger nationalistische PiS-Partei von Jarosław Kaczyński aufzunehmen, die in Polen regiert, und mit der die EU-Kommission seit zweieinhalb Jahren im Clinch liegt wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit.

EVP bestimmende Partei

Die Entscheidungen dazu sind völlig offen. Aber es ist klar, dass es dabei vor allem um eines geht: um Mandate, um die Macht; darum, welche Fraktion in der nächsten Legislaturperiode zwischen 2019 und 2024 dominieren wird. Die EVP ist mit 219 Mandaten die bestimmende Partei in Europa, sie stellt die Präsidenten von Kommission, Europäischem Rat und Parlament (siehe dazu meinen Kommentar Strategiewechsel in der EVP – Generation Kurz drängt nach vor.)

Den Sozialdemokraten, die bisher mit der EVP eine klare Mehrheit im EP hatten, droht 2019 ein Absturz. Die Grünen könnten zur kleinsten Fraktion absteigen. Die Liberalen liegen ganz gut. Die Rechtspopulisten und EU-Skeptiker von links dürften profitieren und stärker werden.

Das alles wirft natürlich die Frage auf, was das mit den österreichischen Parteien zu tun hat und damit, wie sie in die Wahl gehen werden. Beim EVP-Kongress konnte man dazu bereits einige Schlüsse ziehen. Die ÖVP hat in Straßburg derzeit fünf EU-Abgeordnete, gleich viel wie die SPÖ, die FPÖ hat vier, die Grünen drei, die Neos eines, bei insgesamt 18 Mandaten, die Österreich gemäß EU-Vertrag zufallen. Aufgrund des Brexit wird sich die Zahl der EU-Abgeordneten insgesamt von 751 auf 700 reduzieren. Man wird mit dem EU-Austritt der Briten nicht alle 73 britischen EU-Mandate streichen, sondern zwei Dutzend auf die übrigen Staaten verteilen. Österreich bekommt 2019 sogar ein Mandat dazu und hat dann insgesamt 19.

"Paradeeuropäer"

Es wird also auch darum gehen, wer diesmal im "Österreicherlager" als stimmenstärkste Länderdelegation hervorgeht, ein Anspruch, den die ÖVP intern bereits festgelegt hat. Wie kann die ÖVP aber bei den Europawahlen Nummer 1 werden?

Das führt direkt zur Frage, was mit dem derzeitigen Delegationsleiter Othmar Karas sein wird, der als "Paradeeuropäer" in der Tradition von Alois Mock immer wieder mit der Regierung in Wien, insbesondere mit dem kleinen Koalitionspartner FPÖ aneckt, wenn die Blauen mal wieder gegen "die EU" eine Salve abfeuern oder Grundpfeiler der Gemeinschaft infrage stellen, wie die Personenfreizügigkeit, und der 60-Jährige von Straßburg aus dann dagegenhält. Der Spitze der von ÖVP-Chef Sebastian Kurz umgekrempelten Partei geht Karas daher oft auf die Nerven.

Er wird in Wien von nicht wenigen aus der aufstrebenden jungen Parteigarde, die sich derzeit für unbesiegbar hält und entsprechend auftritt, als Störfeuer empfunden, auch wenn er nichts weiter tut, als die ÖVP als "die Europapartei schlechthin" hochzuhalten und anzupreisen. Kanzler Sebastian Kurz hat bisher dazu kaum etwas gesagt. Er vermeidet jede Festlegung, ob er Karas wieder als Spitzenkandidat der ÖVP aufstellen will oder nicht, lobt aber seine Sacharbeit.

100.000 Vorzugsstimmen

Karas selber sagt dazu auch noch nicht viel, außer dass er sich "Ende des Jahres nach der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft entscheiden" wird, ob er antritt oder nicht, genauer gesagt: ob er der ÖVP überhaupt zur Verfügung steht. Der nach Paul Rübig (ÖVP) längstdienende EU-Abgeordnete hat nicht das Gefühl, dass er seine Partei groß bitten müsste. Er bringt als einziger der kleinen Delegation einige Pfunde mit, die auch der bei Wahlen bisher erfolgreiche ÖVP-Chef Sebastian Kurz gut gebrauchen kann, will er seine Partei im Höhenflug halten.

Karas ist der einzige österreichische Politiker, der von sich behaupten kann, dass er einmal mehr als 100.000 Vorzugsstimmen bekommen hat, ein einsamer Rekord, nicht nur bei EU-Wahlen. Der frühere Chef der Jungen ÖVP (sozusagen Kurz-Vorvorvorgänger) und ehemalige Hainburg-Aktivist genießt weit über das engere ÖVP-Lager hinaus Vertrauen bei den Bürgern wegen seiner klaren proeuropäischen Haltung, mit der er sich den EU-Skeptikern auch frontal entgegenstellt, wenn er es für nötig hält – ob das dem Kanzler in Wien gerade passt oder nicht.

Kurz gilt umgekehrt vielen (nicht nur in der ÖVP) als ein wendiger Europapolitiker, der den Tiraden der FPÖ gegen die EU-Integration oder bei Grundwerten in der Integrationspolitik viel zu wenig entgegensetzt. Anders gesagt: Karas deckt auch weit ins Lager der Liberalen, der Grünen und der Unabhängigen ein breites Wählersegment ab, das sehr europafreundlich ist und bei ÖVP-Chef Kurz so seine Zweifel hat.

Furcht vor eigener Liste

Nun gibt es in der ÖVP zwei Theorien, wie dieses "Match" ausgehen könnte. Erstens: Kurz nimmt keinerlei Rücksicht auf Befindlichkeiten, zieht die Euopawahlen für die ÖVP so durch wie die Nationalratswahlen 2017, sprich, er stellt ein ganz neues (junges) Team auf, zum Beispiel mit dem jungen Niederösterreicher Lukas Mandl an der Spitze, der statt Elisabeth Köstinger ins EU-Parlament einzog, als diese Nationalratspräsidentin und dann Ministerin wurde. Oder er bringt eine jüngere Frau als Zugpferd für den EU-Wahlkampf.

Die andere Variante: Kurz setzt weiter auf Karas, obwohl er persönlich Schwierigkeiten damit hat, Politiker über 60 für wichtig und zukunftsfähig zu halten.

Beim EVP-Kongress konnte ich dazu ein paar interessante Beobachtungen machen, die zu folgender Variante führen könnten: Kurz setzt auf Karas, aber der muss nicht unbedingt als Spitzenkandidat antreten, sondern als Doppelspitze mit einer jüngeren Kraft an der Seite, die eher den modifizierten EU-Kurs von Kurz – weniger EU-Integrationsjubel – vertritt.

Alles in allem genommen, ist es aber schwer vorstellbar, dass der ÖVP-Chef Karas ganz fallen lässt. Dazu ist dieser als Stimmenbringer bei den liberalen "Proeuropäern" in Österreich, denen Kurz viel zu weit nach rechts gerückt ist, zu wichtig. Am meisten muss Kurz fürchten, dass Karas mit einer eigenen Liste unabhängig von der ÖVP antritt, etwa über das von ihm gegründete überparteiliche Bürgerforum. Dann wäre Platz eins vermutlich sicher futsch, die Volkspartei könnte sogar auf Platz drei hinter Sozialdemokraten und FPÖ abrutschen. Bei Europawahlen ist das ganze Bundesgebiet ein einziger Wahlkreis. Mit gut fünf Prozent Wähleranteil ist man dabei. Das könnte Karas stemmen.

"Bannerträger"

In München sah es aber ohnehin so aus, als käme dieser Fall für Kurz, Karas wie auch für die europäische EVP-Spitze überhaupt nicht infrage. Der Name Karas wurde beim Kongress der Fraktion auffallend oft explizit hervorgehoben, positiv genannt: So lobte EVP-Fraktionschef Manfred Weber (derzeit chancenreicher Spitzenkandidat für die Juncker-Nachfolge an der Kommissionsspitze) seinen österreichischen Kollegen bei der Begrüßung von Sebastian Kurz im Plenum fast überschwänglich: "Othmar Karas ist unser Bannerträger für Europa in Österreich. Was manchen nicht so bewusst ist, er hat eine wichtige Rolle in der EVP."

Da wollte Kurz nicht nachstehen: Mehr als einmal bedankte er sich vor den gut zweihundert EU-Abgeordneten bei Karas für dessen "gute Arbeit", an anderer Stelle sprach er vom "Dank an die österreichischen Abgeordneten mit Othmar Karas an der Spitze".

Das klang nun nicht unbedingt so, als hielte der Kanzler den ÖVP-Delegationsleiter im Europäischen Parlament für eine leicht verzichtbare Persönlichkeit. Aber "gratis" kriegt er den liberalen VP-Abgeordneten auch nicht. Dieser wird seine Arbeitsbedingungen stellen, auch in Abgrenzung zu den Rechtsnationalisten der FPÖ, die bereits Karas' Kopf forderten. (Thomas Mayer, 10.6.2018)