Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) hat in Österreich tausende Ziele im Visier – und das bereits seit den späten 1990er-Jahren. Das geht aus einer Liste an Spionagezielen in Österreich hervor, die STANDARD und "Profil" vorliegt. Der BND nahm Ministerien in Wien, Firmen, internationale Organisationen, islamische Einrichtungen ebenso wie Terrorverdächtige und Waffenhändler ins Visier. Selbst für Universitätsprofessoren interessierte sich der Geheimdienst. Sie alle wurden elektronisch ausgespäht. Das zeigt die Liste sogenannter Selektoren, die fast 2.000 Ziele umfasst: etwa Telefonnummern, Faxanschlüsse, E-Mail-Adressen oder Namen. Die Selektoren sind mit unterschiedlichen Kürzeln versehen: TEF steht etwa für "Terrorismusfinanzierung", GWI für "Geldwäsche International". Die abgefangenen Informationen wurden laut Liste auch mit anderen Geheimdiensten geteilt. Der BND tauschte etwa Informationen mit der US-amerikanischen NSA aus, die ihm dafür Abhöreinrichtungen zur Verfügung stellte.

Selektoren

Vereinfacht gesagt, sind Selektoren Suchbegriffe, mit denen der BND in abgefangenen Daten nach relevanten Inhalten sucht. Der Geheimdienst untersucht beispielsweise Internetleitungen, durch die riesige Datenmengen fließen. Taucht beispielsweise die E-Mail-Adresse eines Terrorverdächtigen auf, die als Selektor ausgewählt wurde, springt das System an. Dann können Agenten nachsehen, wann die Zielperson mit wem wie lange kommuniziert hat. Die Liste gibt keine Auskunft darüber, ob auch Inhaltsdaten erfasst wurden. Das dürfte teilweise der Fall gewesen sein, etwa bei Faxgeräten – das lässt sich derzeit jedoch nicht belegen.

Fast alle großen österreichischen Unternehmen und Banken befinden sich auf der Liste, die Spionageziele ab 1999 zeigt: die Voest, Fahrzeugbauer Rosenbauer, Drohnenhersteller Schiebel, die Raiffeisen Zentralbank, die Bank Austria oder Swarovski. Ein besonderes Interesse hatte der BND wenig überraschend an Waffenherstellern aus Österreich. Neben den Schwergewichten Glock, Steyr Mannlicher und Hirtenberger finden sich zahlreiche kleinere Produzenten, wie ein Büchsenmacher, in der Liste mit Spähzielen.

Aber auch viele klein- und mittelständische Unternehmen aus anderen Branchen erregten die Aufmerksamkeit der deutschen Spione: unter anderem Holzhändler, Aluminiumbetriebe oder Wärmepumpenhersteller. Die Österreich-Dependancen internationaler Konzerne, etwa Ericsson oder Bombardier, wurden ebenfalls abgeschöpft. Daher stellt sich die Frage, ob der BND über seine Zielaufgaben hinaus auch Wirtschaftsspionage in Österreich betrieben hat, um Deutschland einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Das wäre auch nach deutschem Recht unzulässig.

Der Fahrzeugbauer Rosenbauer wurde ebenfalls ausgespäht.

Vertrauen erschüttert

Außerdem wird das Vertrauen zwischen den beiden EU-Mitgliedstaaten Österreich und Deutschland erschüttert, die seit Jahrzehnten eng kooperieren. Zwar befinden sich keine privaten Nummern oder E-Mail-Adressen österreichischer Politiker auf der Liste, die laut deutschen Quellen einen Großteil, aber nicht alle Ziele in Österreich abbildet. Allerdings bestätigt die Liste, dass eine Reihe von Ministerien abgeschöpft wurde: etwa Anschlüsse im Bundeskanzleramt, im Wirtschafts- und im Innenministerium. Diese wurden 1999 in der Selektorenliste hinzugefügt – also kurz nachdem die FPÖ bei der Nationalratswahl hinter der SPÖ und vor der ÖVP auf Platz zwei gelandet war. Später wurden dann auch Verteidigungs- und Umweltministerium in die Spähliste aufgenommen. Außerdem wurde ein Faxgerät in der österreichischen Nachrichtenagentur APA sowie ein weiteres Faxgerät eines österreichischen Journalisten abgeschöpft. Ins Visier geriet auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), die als offizielle Vertretung der Muslime in Österreich fungiert.

Fokus auf Uno und Botschaften

Einen besonderen Fokus legten die Ausspäher auf die internationalen Organisationen in Wien. Bei der Uno überwachte der deutsche Geheimdienst 128 Telekommunikationsanschlüsse. 75 Botschaften wurden ebenfalls ins Visier genommen. Neben den üblichen Verdächtigen wie dem Iran, Russland oder Nordkorea auch jene befreundeter Staaten wie die Niederlassungen Frankreichs, Israels und der USA.

Der BND wollte die Enthüllungen von STANDARD und "Profil" nicht kommentieren: "Zu den operativen Aspekten seiner Arbeit berichtet der Bundesnachrichtendienst grundsätzlich nur der Bundesregierung und den zuständigen, geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages."

Die Ziele lassen sich nur teilweise durch das Aufgabenprofil des Bundesnachrichtendienstes erklären. Dieser soll beispielsweise Gefahrenlagen im Ausland analysieren, die Einhaltung von Sanktionen sowie die Aktivitäten von Terroristen beobachten und Proliferation – also die Verbreitung gefährlicher Waffen – verhindern.

Dazu bedient sich der BND einer ganzen Reihe von Methoden. Er sucht etwa menschliche "Quellen", die Informationen liefern, oder analysiert öffentlich zugängliche Publikationen. Eine immer wichtigere Rolle spielt aber das Abfangen von elektronischer Kommunikation. Das zeigte die Affäre rund um den US-Geheimdienst NSA, dessen globales Überwachungsnetz vor fünf Jahren vom Whistleblower Edward Snowden offengelegt worden war.

Heeresnachrichtenamt arbeitet mit dem BND zusammen

Damals kam auch die Frage auf, inwiefern Dienste befreundeter Länder, wie der BND oder das österreichische Heeresnachrichtenamt, mit der NSA kooperieren – und inwiefern sich diese gegenseitig ausspionieren. "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht", hatte sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2013 über Berichte beschwert, denen zufolge die US-Amerikaner ihr Telefon abgehört hatten. Gleich danach allerdings informierte sie der damalige BND-Chef Gerhard Schindler, dass Deutschland selbst seine "Freunde" ausspionierte.

Der "Spiegel" berichtete daraufhin von Zielen in ganz Europa, die der BND selbst oder im Auftrag der NSA überwachte: beispielsweise Unternehmen wie den Eurofighter-Hersteller EADS und Eurocopter in Frankreich oder Mitarbeiter von EU-Behörden. Auch das Innenministerium in Wien werde ausspioniert, schrieb der "Spiegel" damals. STANDARD und "Profil" liegt nun dieselbe Liste vor, über die der "Spiegel" damals berichtete. Ihre Authentizität wurde von mit der Materie vertrauten Personen bestätigt. Sie zeigt Ziele in Österreich, die zwischen 1999 und 2006 ausgewählt worden sind. Zu einer Bereinigung der Selektorenlisten kam es laut Aussagen von BND-Mitarbeitern erst 2013, als das deutsche Kanzleramt über die Spionage in befreundeten EU- und Nato-Mitgliedstaaten informiert wurde.

Auch das Verteidigungsminister stand auf der Ausspäh-Liste des deutschen BND.

Dass der BND Ziele in Österreich bespitzelt, ist schon seit 2015 bekannt. Im Zuge der Snowden-Affäre wurde öffentlich, dass der deutsche Geheimdienst die iranische Botschaft und das Innenministerium überwacht. Der damalige Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) nahm es locker. Er sagte dazu knapp: "Ich persönlich habe mir vorgenommen, so zu leben, dass ich auch vor niemandem Angst haben brauche, der mich abhört." Tatsächlich wurde auch das Bundeskanzleramt vom deutschen Geheimdienst abgehört, wie die Zielliste des BND zeigt. Als die damals amtierende Innenministerin Johann Mikl-Leitner (ÖVP) aus den Medien erfuhr, dass ihr Ministerium Ziel eines Spionageangriffs sei, erstattete sie Anzeige und forderte eine vollständige Aufklärung. Daraus ist allerdings bis heute nichts geworden. Die Staatsanwaltschaft Wien habe ihre Ermittlungen derzeit abgebrochen, aber nicht eingestellt, sagte Mediensprecherin Nina Bussek. Die aktuellen Enthüllungen könnten dazu führen, dass sie nun rasch wieder aufgenommen werden können.

Spionage erlaubt

Aus deutscher Sicht ist Spionage im Ausland erlaubt, solange Deutsche nicht ins Visier geraten. Die "Notwendigkeit einer Dienstvorschrift" wurde im BND für elektronische Spionage nicht gesehen, heißt es in einem Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, das ab 2013 aussortierte Spähziele im EU-Ausland und bei Nato-Partnern einsehen konnte. Die Abteilung Technische Aufklärung und ihre Mitarbeiter hatten "weitgehende Entscheidungsräume" bei der Auswahl der Selektoren. Das Kontrollgremium geht davon aus, dass nur ein Drittel dieser Ziele definitiv "rechts- und auftragskonform" war.

Die von NSA und BND gemeinsam genutzte Lauschstation im bayrischen Bad Aibling.
Foto: APA

Mittlerweile werden neue Spähziele in Staaten, mit denen Deutschland befreundet ist, von drei Juristen überprüft. Wie die "Süddeutsche Zeitung" am Freitag berichtete, beklagen diese Kontrolleure aber nach wie vor Schwärzungen und die Verweigerung von Auskünften.

Im BND-Gesetz steht, dass der Geheimdienst Telekommunikation von Ausländern im Ausland abhören darf. Allerdings wird Wirtschaftsspionage ausdrücklich verboten. Eine "Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zum Zwecke der Erzielung von Wettbewerbsvorteilen" sei unzulässig, heißt es in Paragraf 5 des BND-Gesetzes. Außerdem stellt sich die Frage, ob österreichische Ministerien über Teile der deutschen Spionage informiert waren. So wurden vom BND zahlreiche Personen aus der islamistischen Szene ins Visier genommen. Informationen aus der nach österreichischer Sicht nicht genehmigten Ausspähung könnten an den heimischen Verfassungsschutz weitergeleitet worden sein. Das Innenministerium will diesbezüglich allerdings "aufgrund rechtlicher Übereinkommen keine Auskunft erteilen". NSA-Whistleblower Snowden hat über ein System informiert, bei dem befreundete Geheimdienste füreinander spionieren, also die NSA britische Bürger ausspäht und diese Daten dann übermittelt, weil das der britische Geheimdienst selbst nicht darf.

Mangelnder Aufklärungswille

In den vergangenen Jahren wollten österreichische Politiker mehrfach die Aktivitäten ausländischer Geheimdienste in Österreich aufklären. Schon 1998 fragte der damalige Grünen-Chef und heutige Bundespräsident Alexander Van der Bellen beim Innenministerium an, ob Geheimdienste "österreichische Telekommunikation überwachen". Die Antwort des damaligen Innenministers Karl Schlögl (SPÖ): "Ist mir nicht bekannt." In den vergangenen Jahren verlangte auch die FPÖ Aufklärung. 2017 begehrten freiheitliche Abgeordnete beim Verteidigungsministerium Auskunft über die Aktivitäten des BND. Antworten gab es keine: Es handle sich um ein "Amtsgeheimnis zum Schutz der Republik".

Foto: APA

Auch Peter Pilz, damals noch bei den Grünen, beschäftigte sich mit dem Thema. Er zeigte Dokumente, denen zufolge ab 2003 deutsche Telefonleitungen abgeschöpft wurden, um Gespräche aus Österreich herauszufiltern. Ein parlamentarischer U-Ausschuss in Österreich schien möglich, er kam aber nicht zustande, da die Oppositionsparteien sich dafür entschieden, die Vorgänge rund um die Hypo zu untersuchen. Ab Herbst tagt ein U-Ausschuss, der die Affäre rund um das heimische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) unter die Lupe nehmen soll. Unter den Vorgängen im BVT soll das Vertrauen ausländischer Dienste in heimische Behörden leiden. Besonders groß war das aber ohnehin nie, wie die Spionageaktivitäten des BND zeigen. (Fabian Schmid und Markus Sulzbacher, 15.6.2018)