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Für viele Türken geht der Blick von Präsident Tayyip Erdoğan ins Leere. Im Wahlkampf wirkt er sonderbar desorientiert.

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Muharrem Ince ist Erdoğans lautester Herausforderer – und schlägt nach jeder fragwürdigen Äußerung seines Gegners gnadenlos zurück.

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Die große Türkei will einen starken Führer", so steht es auf den Plakaten. Tayyip Erdoğans Porträt taucht vor einem himmelblauen Hintergrund auf. Erdoğan blickt den Betrachter nicht an, er schaut in die Ferne. Ein Mann mit einer Vision und der Erfahrung von Jahrzehnten, soll das signalisieren. Doch für viele Türken geht dieser Blick des Präsidenten ins Leere. Der "starke Führer" scheint mit einem Mal sonderbar desorientiert.

Erdoğans Ausrutscher sind die Sensation dieses schnellen Wahlkampfs in der Türkei. Plötzlich macht der mächtigste Mann der Türkei Fehler, kleine Ungenauigkeiten, folgenschwere Patzer. Sie verwundern Anhänger wie Gegner.

"Wenn er auf die Bühne geht, dann ist er müde. Aber er ist jeden Tag müde. Jeden Tag!", stellt ein türkischer Fernsehmann fest, der Erdoğan seit Jahren beobachtet. "Er ist über seinen Höhepunkt hinaus. Die Leute spüren das."

Wahlkampf mit leerem Magen

Drei, manchmal vier große Auftritte am Tag, von mittags bis spätnachts, hat der 64-Jährige nun jeden Tag hingelegt. Ohne tagsüber zu essen. Der Wahlkampf fiel in den Fastenmonat Ramadan. Früher war das kein Problem, jetzt ist es anders. Bei einer Rede in Diyarbakir stockte Erdoğan plötzlich und schwieg für eine lange Minute vor dem Publikum. Der Teleprompter, den die Zuschauer nicht sehen, war ausgefallen. Ohne die kleine Glasplatte kann der Präsident keine Rede halten, so wurde mit einem Mal klar. "PromptErdoğan" wird nun höhnisch an manche Hausmauern in Istanbul gesprüht. Erdoğan, die alles dirigierende Politikermaschine, hat Aussetzer.

Etwa bei Minute 0:28 schweigt Erdoğan plötzlich.
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Die stärkste Waffe seiner Gegner gab er ihnen selbst in die Hand: Wenn die Leute eines Tages "tamam" sagen – "es reicht" -, so erklärte Erdoğan, dann werde er abtreten. Auf die "Tamam"-Welle im Internet musste Erdoğan keinen Moment warten. "Tamam" ist die Hintergrundmusik dieses Wahlkampfs.

Der weitere Gefolgskreis des Präsidenten, manche der Minister, loyale Parteifunktionäre schweigen nun, so heißt es. Niemand von ihnen würde Zweifel an Erdoğan äußern, schon gar nicht so kurz vor den Wahlen am 24. Juni. Aber sie werfen sich auch nicht mehr ins Zeug wie früher. Sie warten auf das Wahlergebnis, nicht anders als die Wirtschaftsführer, die Investitionen zurückhalten, oder Richter, die nun Urteile in politisch sensiblen Verfahren aufschieben.

Ausrutscher des Präsidenten

Erdoğans Gegner sammeln schadenfroh die Ausrutscher des Präsidenten und teilen sie in den sozialen Medien. Die türkischen Kommunisten hätten in den 1980er-Jahren die Privatisierung der ersten Brücke über den Bosporus durchgesetzt, behauptete Erdoğan etwa bei einem Wahlkampfauftritt im Süden des Landes. Eine unsinnige Aussage. In der Provinz Izmir erklärte er den verblüfften Zuhörern, seine Regierung hätte den Flughafen der Stadt gebaut; tatsächlich aber war der Flughafen 1987 eröffnet worden, Erdoğans AKP kam 2002 an die Macht.

Anfang des Monats ließ sich Erdoğan vor einem enormen Schutthaufen auf dem Taksim-Platz in Istanbul fotografieren, nachts im Dunkeln. Der Abriss des alten Atatürk-Kulturzentrums, des einstigen Wahrzeichens der säkularen, zum Westen hin orientierten türkischen Republik, war beendet. Erdoğans Gesichtsausdruck schwankte zwischen staatsmännischem Ernst und Ratlosigkeit: Was mache ich hier eigentlich?

Entgleitende Macht

Die "Materialermüdung", die Erdoğan bei seiner konservativislamischen Partei AKP öffentlich kritisierte und die ihm als Begründung für den Austausch der Bürgermeister in Istanbul oder Ankara diente, ist ihm nun selbst anzumerken. Nach elf Jahren als Regierungschef und vier weiteren als Staatspräsident scheint er ausgelaugt. Erdoğan trifft nicht mehr den Ton des Volkes, stellen Kommentatoren fest. Ein Mann, dem die Macht zu entgleiten beginnt.

Die Kiraathane sind so ein Beispiel, Erdoğans Wahlkampfversprechen von den nationalen Kaffeehäusern, die seine Regierung landauf, landab in den Städten öffnen würde und wo die Jungen Bücher lesen und kostenlos Kaffee trinken sollen. Fassungslos verfolgen viele Türken, wie sich Erdoğan in die Idee mit den Cafés verbeißt und sich dem Spott preisgibt. Muharrem Ince, sein lautester Herausforderer bei der Wahl um das Präsidentenamt, schlägt nach jeder Äußerung Erdoğans gnadenlos zurück wie ein Tennisspieler, der von der Grundlinie alles retourniert, immer schneller und kraftvoller. "Wenn ihr gratis Kuchen essen wollt, wählt Erdoğan. Wenn ihr in der Fabrik arbeiten und euer Brot verdienen wollt, dann stimmt für mich", sagt Ince, der rechte Kemalist und Sozialdemokrat, vor Arbeitern in Kastamonu an der Schwarzmeerküste. Erdoğans Regierung will dort eine Zuckerraffinerie privatisieren. Jetzt, kurz vor der Wahl, hat sie das Vorhaben gestoppt.

Ein Favorit, viel Unwägbares

In den Umfragen ist Erdoğan immer noch der Favorit für die Präsidentenwahl. Er kann in einem Stichentscheid sowohl gegen Ince wie gegen die rechte Nationalistin Meral Aksener gewinnen, so heißt es, oder möglicherweise gar schon in der ersten Runde am 24. Juni mit knapp über 50 Prozent den Sieg davontragen, wie eine Umfrage im Auftrag von Bloomberg zuletzt ergab. Doch die Unwägbarkeiten sind groß.

"Es ist das erste Mal in einem Jahrzehnt, dass ich einen wirklichen politischen Wettkampf sehe", sagt ein Manager eines türkischen Konzerns. Er überlegt, für Aksener zu stimmen. Die 61-jährige ehemalige Innenministerin ist die unbekannte Größe dieses Wahlkampfs. Sie könnte in einer Stichwahl gegen Erdoğan vielleicht mehr Wählergruppen erreichen als der Kemalist Ince.

Neuwahlen möglich

Bei der gleichzeitigen Parlamentswahl scheint die Lage noch offener. Das Bündnis der Oppositionsparteien und die Kurdenpartei HDP – wenn ihr der Sprung ins Parlament wieder gelingt – könnten Erdoğan die Mehrheit nehmen. Was dann geschieht? Erdoğan wird im Herbst wieder wählen lassen, sagen die Türken. Doch dann müsste sich auch der Präsident nochmals für sein Amt bewerben, so schreibt es die neue Verfassung vor. Und die Wirtschaftslage im Land mit Lirasturz und hoher Inflation ist jetzt schon schwierig. Es wäre Erdoğans Rückzugsgefecht von der Macht.

So beginnt nun auf der Zielgeraden zur Wahl die Zeit der Überraschungen. Unerwartete, dramatische Vorfälle mögen die Unentschiedenen unter den fast 60 Millionen Wählern auf die Seite der Regierung ziehen. In Suruç, einer mehrheitlich kurdischen Provinz im Süden, an der Grenze zu Syrien, endet der Besuch eines AKP-Kandidaten bei Ladenbesitzern am vergangenen Donnerstag mit vier Toten. Ince und die Kurdenpartei seien daran schuld, behauptet die Regierung. Der Topverdächtige des Putschs vom Juli 2016 hält sich doch in Berlin versteckt, melden zugleich türkische Medien. Stimmt dies, wäre es ein Wahlgeschenk für Erdoğan. (Markus Bernath, 18.6.2018)