Wenn der Stress nachlässt, rinnen die Tränen: Die meisten Menschen weinen zwischen 18 und 23 Uhr. Weinen dient auch dem Stressabbau.

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Ich beginne mit einem Bekenntnis und gebe unumwunden zu: Ich bin sehr nahe am Wasser gebaut, wie man so schön sagt. Das heißt: Ich weine oft und bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Ich weine aus Rührung, ich weine, wenn ich oder andere Menschen schlecht behandelt werden, ich heule im Kino, schluchze bei der Lektüre trauriger Bücher, es gibt Musik, die bei mir auf die Tränendrüse drückt. Unlängst schaffte das auch ein rührseliger Werbespot. Kurzum: Ich bin eine richtige Heulsuse.

Damit bin ich allerdings nicht allein. Frauen weinen bis zu 64-mal pro Jahr, Männer nur rund 17-mal. Diesen Durchschnittswert haben Augenärzte der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft unlängst ermittelt. Im Allgemeinen gehören Männer häufiger in die Gruppe der Nichtweiner. Wenn sie losheulen, dann nicht selten aus narzisstischer Kränkung. Die Tränen können ihnen aber auch über ein verlorenes Fußballspiel hinweghelfen. Frauen hingegen weinen nicht nur häufiger als Männer, sie weinen auch aus anderen Gründen. "Sie tragen ihre Gefühle durch Worte, Tränen und Gesten eher nach außen, während Männer ihre Gefühle internalisieren und handeln", sagt Elisabeth Messmer von der Augenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, die in diesem Bereich forscht.

Schätzungen zufolge werden in Deutschland jeden Tag 40 Badewannen mit Tränen gefüllt. Am häufigsten heulen Menschen zwischen 18 und 23 Uhr. Das hat nachvollziehbare Gründe: Die Kinder sind endlich im Bett, der Hund Gassi geführt, die Anspannung des Alltags fällt ab, wir sind erschöpft, müde, vielleicht frustriert von diesem Tag, vom Job oder von einer bösen Kränkung. Die Spannung lässt nach, es fließen die Tränen.

Drei Arten von Tränen

Wissenschafter unterscheiden drei Arten von Tränen: "Basale Tränen", die bei jedem Blinzeln erzeugt werden und das Auge vor dem Austrocknen schützen. "Reflektorische Tränen", die als Reaktionen auf äußere Reize wie etwa Staub oder Zwiebeldämpfe reagieren. "Emotionale Tränen" weinen wir, wenn die Gefühlswelt durcheinandergerät.

Ein Wissenschafterteam am St. Paul-Ramsey Medical Center im US-Bundesstaat Minnesota hat sich damit beschäftigt, welche Substanzen bei Stress oder starken Emotionen über die Tränendrüsen ausgeschieden werden. Für ihre Studie mussten 200 Männer und Frauen monatelang weinen. Jede Träne wurde gesammelt und analysiert. Das Ergebnis: Der Heuleffekt dient demnach unbewusst zur Entspannung oder Schmerzlinderung. So enthalten emotionale Tränen Leuzin-Enkophalin, Lysozyme und Prolactin. Leuzin-Enkophalin ähnelt dem Schmerzmittel Morphium, Lysozyme sind antibakterielle Enzyme, die für die Infektionsabwehr benötigt werden, und Prolactin ist ein Hormon, das die Bildung von Muttermilch anregt. Da bei Schwangeren das Hormon Prolactin vermehrt gebildet wird, erklärt dies wahrscheinlich auch, warum sie häufiger weinen.

"Die Menge der Stresshormone, die mit der Tränenflüssigkeit ausgeschieden werden, reicht allerdings bei weitem nicht aus, um emotionale Ausnahmezustände zu regulieren", relativiert die Salzburger Psychiaterin Carolin Schiefer. Beim Stressabbau hilft es hingegen sicher, denn fast jeder Mensch fühlt sich nach dem Weinen erleichtert. Die Forschung spricht hier von der "Katharsis-Theorie des Weinens", also einer reinigenden Wirkung, deren Definition auf Aristoteles und Hippokrates zurückgeht.

Demokratie des Weinens

Aktuell hat sich der niederländische Forscher Ad Vingerhoets von der Universität Tilburg in einer Studie mit der Psychologie des Weinens beschäftigt. Er und sein Team konnten in einer Untersuchung mit mehr als 5.000 Teilnehmern aus 37 Ländern aufzeigen, dass die meisten Tränen nicht in Ländern fließen, die arm und deshalb vermeintlich häufiger unglücklich sein müssten. Im Gegenteil: Am meisten weinten Schwedinnen, Brasilianerinnen und Deutsche. Bei den Männern taten sich die Italiener emotional besonders hervor. Laut "World Happiness Report 2017", in dem 155 Länder gelistet sind, liegen Schweden, Brasilien und Deutschland weit vorn unter den glücklichsten Ländern der Welt. Vingerhoets vermutet, dass das auch damit zu tun hat, dass Emotionen in Demokratien eher akzeptiert sind und es weniger verpönt ist, Gefühle öffentlich zu zeigen.

"Die Fähigkeit zu weinen ist jedem Menschen angeboren. Wenn wir häufig starke Emotionen unterdrücken, schlägt sich das auf Körper und Seele. Magen- und Kopfschmerzen, Herzrhythmusbeschwerden und Depressionen können die Folgen davon sein", sagt Schiefer. Je früher Kindern das Weinen untersagt oder ausgeredet würde, umso wahrscheinlicher führe das zu psychischen Störungen und Erkrankungen. In der Psychotherapie heißt es deshalb nicht umsonst: "Jede Träne, die als Kind nicht geweint wurde, muss nachgeweint werden."

Doch bereits im Kleinkindalter hören Kinder und vor allem Buben noch immer, dass sie sich zusammenreißen sollen, dass es eh nicht mehr wehtue oder alles nicht so schlimm sei, wie Psychiaterin Schiefer betont. "Das ist eine Abwertung, weil Schmerz oder Trauer und Wut des Kindes scheinbar nicht zählen." Egal ob ein Kind nun hingefallen ist oder der Luftballon davonfliegt: Der Satz "Da muss man jetzt aber wirklich nicht weinen" ist unangebracht.

Familiendramen

Warum weinen aber manche Menschen und andere weniger oder gar nicht? Die charakterliche Grundneigung, emotional zu sein, ist zum Teil auch genetisch bedingt. Neben der erblichen Veranlagung spielen auch die Erziehung und das soziale Umfeld, in dem ein Mensch aufwächst, eine wesentliche Rolle.

Wer schon als Kind gelernt hat, mit Empathie, guten und schlechten Emotionen und damit mit dem Weinen umzugehen, tut sich im Leben naturgemäß leichter: "Wenn ich auf einem Bergbauernhof aufgewachsen bin, werde ich wahrscheinlich seltener weinen, als wenn ich in eine Künstlerfamilie hineingeboren wurde, in der große Gefühle und Dramen an der Tagesordnung waren", vermutet Schiefer. Das könnte auch erklären, warum ich so ein "Häferl" bin. (Anja Pia Eichinger, 23.6.2018)