Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am Sonntag stellen eine Schickalswahl dar: Umfragen legen nahe, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan sowohl um die Parlamentsmehrheit für die regierende AKP und ihre Bündnispartner MHP fürchten muss, als auch um seine eigene Wiederwahl. Die große Frage ist allerdings, ob sich das Regime im Ernstfall durch Wahlbetrug an der Macht halten könnte.

Wahlallianzen mit seltsamen Bündnispartnern

Fast gleichauf liegen derzeit in Umfragen die beiden großen Wahlallianzen des Regierungs- und Oppositionslagers. Erstmals gibt es in der Türkei diese Möglichkeit offizieller Parteiallianzen. Dabei stehen sich auf Regierungsseite die Volksallianz und auf Oppositionsseite die Nationale Allianz gegenüber. In der Volksallianz sammelt sich neben Erdoğans Regierungspartei AKP und der rechtsextremen Nationalen Bewegungspartei MHP – hierzulande auch unter dem Namen derer Jugendorganisation "Graue Wölfe" bekannt – auch noch die kleine, nicht weniger rechtsextreme Partei der Großen Einheit (BBP) – das ist jene Partei, der jene Moschee in Wien nahesteht, die vor zwei Wochen kurzzeitig von der Regierung geschlossen wurde, mittlerweile aber wieder offen hat. Verbindendes Element ist ein sunnitisch-türkischer Nationalismus, der in der Türkei als "türkisch-islamische Synthese" bezeichnet wird.

Dem gegenüber steht die Nationale Allianz, die heterogener nicht sein könnte und fast alle türkischen Gegner der AKP vereint. Neben der alten kemalistischen CHP, versammelt sich hier die "Gute Partei" (İyi Parti) von Meral Akşener, einer Abspaltung der MHP, die jene Rechtsextremisten versammelt, die sich gegen die AKP gestellt hatten, sich gegen die "Islamisierung" der MHP stellten und einen stärker säkularen nationalistischen Kurs einschlugen, die islamistische Partei der Glückseeligkeit SP, die der Europäischen Millî Görüş nahe steht, sowie die Demokratische Partei DP, einer Fusion der Rechtsparteien der 90er-Jahre. Alles was diese Parteien vereint, ist die Ablehnung der Herrschaft der AKP und ihres Autoritarismus. Ideologisch stehen sich Kemalisten, Rechtsextremisten und Millî Görüş/SP in vielfacher Hinsicht diametral gegenüber.

Für Erdogan ist die Wahl alles andere als ein Start-Ziel-Sieg.
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Kurdische Herausforderung

Außerhalb dieser Wahlallianzen besitzt eigentlich nur noch die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker HDP die Chance die hohe Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu überwinden. Zwar kandidieren mit der kurdisch-islamistischen Hüda-Par, der türkisch-(links)nationalistischen Vaterlandspartei und einigen "unabhängigen" Kandidatinnen und Kandidaten weitere Parteien, diese sind jedoch alle chancenlos.

Vom Abschneiden der HDP wird es allerdings abhängen ob die Regierungsparteien eine Mehrheit haben. Sollte der HDP wie bei den vergangenen Wahlen der Einzug gelingen, wird sich für AKP und MHP keine Mehrheit ausgehen.

Bei Umfragen liegt die HDP überall über den zehn Prozent, allerdings hat die Regierung bereits durch einen AKP-freundlichen Neuzuschnitt der Wahlkreise, Einbürgerungen von regimefreundlichen syrischen Flüchtlingen und die Vertreibungen kurdischer Zivilistinnen und Zivilisten von 2015 denkbar schlechte Grundvoraussetzungen für die HDP geschaffen. In den letzten Wochen wurde auch bekannt, dass eine Reihe von Wahllokalen aus traditionell der HDP zuneigenden Orten in Dörfer verlegt wurden, in denen sogenannte Dorfschützer, also kurdische Kollaborateure, die mit der türkischen Armee gegen die PKK kämpfen, dominieren.

Aus der kurdischen Kleinstadt Suruç, direkt an der syrischen Grenze gegenüber der Stadt Kobanê, kamen denn heute auch die ersten Meldungen über Unregelmäßigkeiten. Traditionell eine HDP-Hochburg, wurden dort bereits zu Beginn der Wahl volle Wahlurnen mit Stimmen von Wählerinnen und Wählern gefunden, die gar nicht wählen gingen. Es wird abzuwarten sein, ob ähnliche Berichte auch aus anderen Regionen der Türkei kommen werden.

Auch aus Hatay, einer traditionell arabischsprachigen Region an der Grenze zu Syrien, in der die AKP aufgrund des hohen Anteils an alawitischer und christlicher Bevölkerung normalerweise keine Mehrheiten hat, wurden Reisebusse gemeldet, mit denen Kämpfer von protürkischen Milizen aus Syrien angekarrt wurden, um ihre Stimme für Erdoğan und die AKP abzugeben.

Präsidentschaftswahlkampf aus dem Gefängnis

Der Wahlkampf für die zusammen mit den Parlamentswahlen stattfindenden Präsidentschaftwahlen, war schließlich eine weltweit einmalige Premiere. Der populäre Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, musste seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen. Da es noch kein Urteil gegen ihn gibt, kann er zwar kandidieren, musste seine Wahlkampfvideos aber in Untersuchungshaft drehen, während sich Präsident Erdoğan öffentlich die – in der Türkei abgeschaffte – Todesstrafe für seinen Konkurrenten wünschte.

Wie der Wahlkampf der HDP, wurde auch der für Demirtaş systematisch behindert. Die gleichgeschalteten türkischen Medien berichteten nicht über den Kandidaten. Lediglich die noch vorhandenen Parteistrukturen konnten über ihn berichten.

Als umso populärer stellte sich im Laufe des Wahlkampfes hingegen der Kandidat der kemalistischen CHP, Muharrem İnce, heraus, der zu seinem Wahlkampfabschluss am Samstag in Istanbul fast fünf Millionen Menschen mobilisieren konnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er es sein, der sich in einer Stichwahl mit Erdoğan messen kann. Als relativ linker Kemalist wäre er sowohl für die Wählerinnen und Wähler Demirtaşs als auch für die von Meral Akşeners, der Kandidatin der İyi Parti, wählbar, hätte also am ehesten Chancen Erdoğan zu besiegen.

Die anderen Kandidaten, Temel Karamollaoğlu von der SP und Doğu Perinçek von der Vaterlandspartei spielen im Rennen um die Präsidentschaft keine Rolle. Es ist aber durchaus möglich, dass auch deren Wählerinnen und Wähler am Ende eher İnce als Erdoğan die Stimme geben würden.

Erdoğan abwählen?

Auch wenn es damit durchaus möglich erscheint, Erdoğan und die AKP abzuwählen, sollte man sich keine Illusionen über die Zukunft der Türkei machen. Zunächst stellt sich die Frage, ob das AKP-Regime überhaupt noch abwählbar ist oder gegebenenfalls mit allen Mitteln an der Macht bleiben wird. Ob ein Wahlsieg mittels Wahlfälschungen möglich ist, wird auch davon abhängen, wie viele Stimmen gefälscht werden müssten. Schließlich ist es aber auch möglich, dass sich Erdoğan, der mittlerweile auch die Sicherheitskräfte auf seiner Seite weiß, einfach weigern könnte, zurückzutreten. Schließlich weiß er, dass er dann wohl ins Exil gehen müsste. Nach den Verbrechen der letzten Jahre währen ihm und seiner Familie, die tief in die Korruptionsaffären der Regierung verwickelt ist, wohl Strafverfahren und langjährige Haftstrafen gewiss.

Aber selbst wenn Erdoğan abgewählt werden könnte und sich rechtzeitig ins Ausland absetzen würde, wäre die Krise in der Türkei noch lange nicht überwunden: Die Opposition gegen die AKP ist extrem gespalten und die alten AKPler werden nicht verschwinden. Die İyi Parti vertritt in der Kurdenfrage eine extrem harte nationalistische Linie und auch die CHP ist diesbezüglich gespalten. Keine der Oppositionsparteien – außer der HDP – hat sich für den Rückzug der Türkei aus Syrien – dem türkisch besetzten Afrin – ausgesprochen und die wirtschaftliche Krise des Landes steht erst an ihrem Beginn.

Wer auch immer die Türkei in den nächsten Jahren regieren wird, wird ein zerrissenes Land mit großen ökonomischen Problemen regieren. Der Weg zu einer Friedenslösung mit den Kurden und einer echten Demokratisierung wäre auch im Falle einer Abwahl Erdoğans noch weit. (Thomas Schmidinger, 24.6.2018)