Der innenpolitische Aufreger Nummer eins bleibt der Zwölfstundentag. Gewerkschaft und Arbeiterkammer mobilisieren gegen die Reform der türkis-blauen Regierung und planen für Samstag eine Großdemonstration in Wien. ÖVP und FPÖ wiederum haben eine Überarbeitung ihres Gesetzesantrags angekündigt, mit dem die Ausdehnung des Arbeitstags auf zwölf Stunden künftig problemlos möglich sein wird.

Braucht Österreich den Zwölfstundentag wirklich? Wer gewinnt und wer verliert durch das neue Gesetz? Darüber diskutierte die Präsidentin der Arbeiterkammer (AK), Renate Anderl, mit dem Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), Christoph Neumayer, am Montag live auf derStandard.at.

Werbebotschaft der Industriellenvereinigung vor der Zentrale des ÖGB in Wien.
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"Damit nicht permanent geschummelt wird"

Die türkis-blaue Regierung hat einen Initiativantrag im Nationalrat eingebracht, der es erleichtern soll, dass Beschäftigte auch einmal zwölf Stunden am Tag arbeiten dürfen. Was ändert sich mit den neuen Regeln wirklich? Arbeitnehmer und Arbeitgeber interpretieren das Gesetz in vielen Punkten unterschiedlich. Da es keine lange Begutachtungsfrist gibt und die Arbeitszeitreform rasch beschlossen werden soll, bleibt wenig Zeit, um Differenzen auszuräumen.

STANDARD: Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat in einem Interview in der "ZiB 2" erklärt, dass Sozialministerin Hartinger-Klein den Gesetzesvorschlag zum Zwölfstundentag nicht gelesen hat. Symbolisiert dieser Sager nicht alles, was in der aktuellen Debatte schiefläuft: Warum diese Eile beim Beschluss?

Neumayer: Es ist ein eher ungewöhnlicher Weg, das Ganze so kurzfristig zu machen. Aber ich darf schon daran erinnern, dass das kein Weg ist, den wir nicht kennen. Derselbe Vorgang wurde im Oktober 2017 gewählt, als die Angleichung bei Arbeitern und Angestellten von SPÖ und FPÖ ausverhandelt und ebenfalls binnen zwei Wochen durchs Parlament gebracht wurde. Die Arbeitszeitflexibilisierung ist offensichtlich etwas, das die Bundesregierung noch im ersten Halbjahr beschließen will. Darüber kann man diskutieren, es ist nicht völlig überraschend. Die Sozialpartner behandeln das Thema ja schon seit Jahren.

Ungewöhnlich, dass das Ganze so kurzfristig gemacht wird, meint Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung.
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STANDARD: Aber mit dieser Eile wird doch eine fundierte Debatte unmöglich gemacht.

Neumayer: Die Hoffnung ist immer, dass Dinge gut abgestimmt sind. Das ist notwendig, um Politik zu machen. Auf der anderen Seite wissen wir aus der Vergangenheit, dass viele Gesetzesvorhaben im kleineren Kreis besprochen werden. Früher war es so, dass die Sozialpartner etwas unter sich ausgemacht haben. Dann wurde es eingebracht und umgesetzt. Da gab es oft gar keine Diskussionen über das Thema.

Anderl: Ein so wichtiges Gesetz wie das Arbeitszeitgesetz, das alle Arbeitnehmer betrifft, auf diese Art und Weise durchs Parlament zu tragen ist sehr ungewöhnlich. Dass die Sozialpartner dabei nicht mit an Bord geholt wurden, ruft bei mir Unbehagen hervor. Jetzt wird nämlich ein Arbeitszeitgesetz vorgeschlagen, das einzig und allein Unternehmern nützt. Es gibt kaum einen Punkt oder Beistrich in dem Vorschlag, der den Arbeitnehmern etwas bringt. Warum steht nicht im Gesetz, dass, wenn jemand vier Tage arbeitet, ein Anspruch auf einen längeren Freizeitblock besteht, wenn da Zwölfstundentage dabei sind. Wo ist der Vorteil für die Arbeitnehmer, wenn sie schon herangezogen werden können zu zwölf Stunden? Was ist mit einer sechsten Urlaubswoche?

Sie empfinde Unbehagen, dass die Sozialpartner bei einem so wichtigen Gesetz nicht mit an Bord sind, sagt die Präsidentin der Arbeiterkammer, Renate Anderl.
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STANDARD: Nun hat die FPÖ angekündigt, dass die Freiwilligkeit ins Gesetz geschrieben werden soll. Arbeitnehmer sollen also Überstunden ablehnen können. Wäre damit der Konflikt nicht entschärft?

Anderl: Freiwilligkeit klingt gut. Aber es wurde wieder zurückgerudert: Die Freiwilligkeit kommt nicht ins Gesetz, sondern soll nur Teil der begleitenden Erläuterungen sein. Das war die letzte Meldung. Die Erläuterungen würden aber nichts gelten, wenn im Gesetz etwas anderes steht. Schreibt man die Freiwilligkeit ins Gesetz, würde ich die Frage stellen, was das genau ändern wird: In Branchen und Betrieben, wo Spezialisten am Werk sind, Facharbeiter, hochqualifizierte, sehe ich insgesamt wenig Probleme. Aber es gibt viele Branchen, in denen vor allem angelernte Arbeitskräfte tätig sind. Und diese werden sich fragen: Sage ich wirklich zweimal Nein zu einer Überstunde, selbst bei Freiwilligkeit? Habe ich dann morgen noch einen Arbeitsplatz?

Neumayer: Es gibt zwei Punkte, die für uns in der Debatte immer wichtig waren. Der eine ist, dass Überstundenzuschläge nicht wegfallen dürfen. Der zweite Punkt ist die Freiwilligkeit. So, wie ich das sehe, ist beides gesichert. Es gibt ja schon aktuell eine Reihe von Gründen, warum ein Mitarbeiter Überstunden ablehnen kann. Das kann ein Theaterbesuch sein, das kann sein, dass Kinder abgeholt werden müssen. Wenn die Freiwilligkeit so kommt, wie das der Vizekanzler angekündigt hat, dann stärkt das in Wahrheit die jetzige Position der Arbeitnehmer, weil sie noch mehr Möglichkeiten erhalten, Überstunden abzulehnen.

STANDARD: Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, in Spitzenzeiten die Arbeitszeit auf zwölf Stunden auszudehnen. Dort, wo es einen Betriebsrat gibt, ist dafür eine Betriebsvereinbarung mit diesem notwendig. Wo fehlt in Österreich die Flexibilität bei der Arbeitszeit?

Neumayer: Wo uns sehr oft von Problemen erzählt wird, betrifft Montagetätigkeiten. Mitarbeiter sind dazu gezwungen, nach zehn Stunden heimzufahren, weil sie nicht fertig arbeiten dürfen. Sehr viele Unternehmen werden die zwölf Stunden nicht in Anspruch nehmen. Es geht um Berufsbilder, wo es um die Abarbeitung kurzfristiger Spitzen geht, etwa darum, ob ich ein Anbot legen kann. Es geht um White-, nicht Blue- Collar-Jobs. Wie können wir also dafür sorgen, dass in diesen Branchen nicht permanent geschummelt werden muss, um die arbeitszeitrechtlichen Auflagen zu erfüllen. Ich bin kein Freund davon, dass wir über den Zwölfstundentag reden. Es geht ja nur um punktuelle Ausdehnungen. Kein Arbeitgeber wird den Zwölfstundentag zur Regel machen.

Anderl: Wenn der Bedarf nur für eine gewisse Branche gegeben ist, schauen wir uns die Regelungen dort an. Warum machen wir ein Arbeitszeitgesetz neu, das für alle gilt? Seien wir doch ehrlich: Wenn ein Unternehmen damit beginnt, zwölf Stunden arbeiten zu lassen, ziehen andere nach. Ein Beispiel: Früher haben Supermärkte um acht Uhr früh aufgesperrt, dann kam einer auf die Idee, das um 7.40 Uhr zu tun. Plötzlich haben alle um 7.40 Uhr offen.

STANDARD: Im aktuellen Gesetz steht, dass in Betrieben ohne Betriebsrat zwölf Stunden gearbeitet werden darf, wenn ein Arbeitsmediziner dies per Gutachten für in Ordnung befindet. Ist diese Regelung nicht völlig veraltet? So ein Gutachten kostet um die 1000 Euro.

Anderl: Gerade in der Industrie, in Großbetrieben, gibt es Vereinbarungen, die den Zwölfstundentag schon bisher ermöglicht haben. Aber: Wenn der Zwölfstundentag stattfindet, dann hat das dort immer auch Vorteile für Arbeitnehmer. Sie können Freizeitblöcke konsumieren, da steht oft drinnen, dass die elfte und zwölfte Stunde mit 100 Prozent Zuschlag ausbezahlt werden. Diese Vereinbarungen werden nun mit der Gesetzesänderung weggewischt. Schreiben wir ins Gesetz, dass die elfte und zwölfte Stunde mit 100 Prozent Zuschlag zu zahlen sind. Dann können wir diskutieren.

STANDARD: Ist die Arbeiterkammer bereit, auf den teuren Arbeitsmediziner zu verzichten?

Anderl: Schmeißen wir diesen Initiativantrag zur Arbeitszeit so, wie er vorliegt, in den Reißwolf – und ja, dann kann man über einiges reden.

STANDARD: Herr Neumayer, könnten Sie damit leben, wenn fixiert wird, dass die elfte und zwölfte Stunde mit 100 Prozent Zuschlag abgegolten werden?

Neumayer: Ich habe das Gesetz so verstanden, dass die Betriebsvereinbarungen und Kollektivverträge, die es gibt und die einen Zwölfstundentag zulassen, so bleiben, wie sie sind. Die Errungenschaften der Arbeitnehmer, die man in solchen Vereinbarungen erzielt hat, sollen bestehen bleiben.

STANDARD: 2017 haben die Sozialpartner über Arbeitszeitflexibilisierung inklusive Zwölfstundentages verhandelt. Was stand einer Lösung im Weg?

Neumayer: Am Ende des Tages war es die Forderung der Arbeitnehmer, dass man neben den vielen Schritten, die die Unternehmer ihnen schon entgegengekommen sind, auch noch die leichtere Erreichung der sechsten Urlaubswoche haben wollte.

Anderl: Das hätte auch einen Vorteil für Arbeitnehmer bedeutet.

Neumayer: Aber diese Vorteile gab es schon: Der größte war die Erhöhung des Mindestlohns, auf den sich die Sozialpartner 2017 verständigt hatten. Früher wäre es in guter sozialpartnerschaftlicher Manier so gewesen, dass man das eine mit dem anderen verknüpft hätte. Sie erinnern sich genau, Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl und ÖGB-Präsident Erich Foglar sind damals beisammengesessen, der Herr Foglar hat aber nicht die Unterstützung seines Präsidiums bekommen. Die Arbeitgeber haben die Mindestlohnanhebung mit den Arbeitnehmern fixiert, ohne bei der Arbeitszeitflexibilisierung etwas zu bekommen. Das ist der Grund, warum wir dort stehen, wo wir heute stehen. Die Arbeitnehmerseite hat hier leider ein paar Mal mit Forderungen wirklich überzogen.

Anderl: Bei der Anhebung des Mindestlohns geht es um Menschen, deren Einkommen aus 40 Stunden Arbeit nicht zum Leben reicht. Dass man hier in einer Hochkonjunktur fordert, den Mindestlohn für diese Menschen anzuheben, das kann man doch nicht mit einem neuen Arbeitszeitgesetz abwägen, das für alle gilt.

Neumayer: Wenn man nur Dinge einfordert und nicht bereit ist, selbst entgegenzukommen, darf man sich nicht wundern, wenn die Regierung jetzt sagt: Wir machen das.

STANDARD: Wie viele Stunden kann man Ihrer Ansicht nach vernünftig arbeiten.

Neumayer: Das hängt von der Tätigkeit ab. Es wird Bereiche geben, wo sehr viel Kopfarbeit gefordert ist, wo mit Pausen punktuell zwölf Stunden möglich sein können.

STANDARD: Frau Anderl, gibt es nicht in der Tat Jobs, in denen Arbeitnehmer zum Beispiel primär Maschinen überwachen, wo zwölf Stunden problemlos zumutbar sind.

Anderl: Es ist nirgends gut, und so lange Tage sind gesundheitsgefährdend. Ich will aber noch etwas zur sechsten Urlaubswoche sagen: Im Gesetz steht, dass man einen Anspruch auf diese nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit hat. Die Menschen werden flexibler, manchmal freiwillig, manchmal unfreiwillig. Es gibt kaum noch jemanden, der eine Lehre beginnt und bis zur Pensionierung im Betrieb bleibt. Es werden also immer weniger Menschen von einer sechsten Urlaubswoche profitieren. Wir wissen zugleich, dass der Druck auf Menschen im Leben im Arbeitsleben insgesamt höher wird. Da wäre es notwendig, diesen Druck durch mehr Freizeit auszugleichen.

STANDARD: Ein großes Streitthema ist die Gleitzeit. Aktuell sehen manche Betriebsvereinbarungen vor, dass die elfte und zwölfte Stunde privilegiert behandelt werden, etwa bei Zuschlägen. Ist das in Gefahr?

Neumayer: Auf das Thema muss man schauen. Ich glaube, dass man festschreiben kann, dass die elfte und zwölfte Stunde immer zuschlagspflichtig bleiben müssen. Ich weiß nicht, ob die Bundesregierung das plant. Aber das ist aus unserer Sicht wichtig. Der zweite Punkt aus unserer Sicht ist, dass Betriebsvereinbarungen, so es sie gibt, bestehen bleiben sollen.

STANDARD: Frau Anderl, glauben Sie, dass die Wahrscheinlichkeit für Streiks und Arbeitsniederlegungen steigt?

Anderl: Wenn das Gesetz so bleibt, wie es derzeit ist, ja.

(Andras Szigetvari, 25.06.2018)