Barrikade in Masaya, 5. Juni.

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Polizeieinsatz vor der Technischen Universität Managua, 20. April.

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Eigenbau-Schusswaffe auf dem Sarg des Demonstranten Marvin Lopez, der am 20. Juni in Masaya erschossen wurde.

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Im Rahmen der "Eurokarawane" ziehen derzeit nicaraguanische Aktivistinnen durch Europa, um auf die Menschenrechtssituation in dem mittelamerikanischen Land aufmerksam zu machen, wo bei Protesten gegen die Regierung Daniel Ortegas in den vergangenen zwei Monaten 285 Menschen getötet wurden. Am Donnerstag sprachen Yerling Aguilera und Madelaine Caracas vor dem Menschenrechtsausschuss im Parlament, Bert Eder traf sie im Burggarten auf einen Kaffee.

STANDARD: Wie kam es zu den Protesten in Nicaragua?

Yerling Aguilera: Das hatte nicht nur einen Grund. Elf Jahre nach der Rückkehr Daniel Ortegas an die Macht waren der Zünder schlussendlich die Demonstrationen wegen des Großbrands im Bioreservat Indio Maíz und die Proteste gegen die Reform der Sozialversicherung, die gewaltsam unterdrückt wurden.

Diese Erfahrungen, aber auch die Bilder und Videos des brutalen Vorgehens der Polizei und mit dieser verbündeter Milizen ("Parapolizisten"), führten dazu, dass die Proteste auch weitergingen, als die Regierung Ortega die Sozialreform zurücknahm. Da hat sich viel Unmut aufgestaut, auch weil die Regierung jeglichen Dialog verweigerte und Ortegas Partei alle staatlichen Institutionen kontrolliert.

Die Studentenschaft protestierte außerdem gegen die fehlende Autonomie der Universitäten, die eigentlich eine der Hauptforderungen der sandinistischen Bewegung gewesen wäre, von der Regierung aber immer mehr eingeschränkt wurde. Da geht es zum Beispiel um Stipendienvergaben, aber auch um die Bestellung von Professoren.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Unternehmer?

Madelaine Caracas: Wir sprechen da von einer "Ehe" zwischen Ortega und der Privatwirtschaft, die seit elf Jahren besteht. Sie haben ihn an der Macht gehalten und die Vorteile dieser Allianz genossen. Jetzt auf einmal kehren sie ihm den Rücken zu und unterstützen die Zivilgesellschaft.

Sie werden immer auf der Seite stehen, die ihre Interessen vertritt. In der Bevölkerung genießen sie aber wenig Vertrauen. Kürzlich hat der Unternehmerverband zum Protest aufgerufen, die Demonstranten hielten sich aber nicht an die vorgegebene Route und zogen zur Universität, um die Studenten zu unterstützen.

STANDARD: In den internationalen Medien finden sich hauptsächlich Berichte über Demonstrationen in der Hauptstadt Managua. Wie ist die Lage in kleineren Städten und auf dem Land?

Aguilera: Die meisten Demonstranten wurden in Managua, León, Estelí und Matagalpa getötet, wo die Parapolizeimilizen präsent sind. In anderen Städten laufen die Proteste friedlich ab.

STANDARD: Seit wann gibt es diese Milizen?

Aguilera: Ich habe zum ersten Mal bei Bauernprotesten gegen den Bau des Nicaragua-Kanals im Jahr 2014 erlebt, dass die Polizei den Weg für Milizen freimacht, damit diese die Protestierenden attackieren können. Das Phänomen ist also nicht neu.

Caracas: Die Milizen wurden bisher von den Medien kaum wahrgenommen. Sie waren nicht jeden Tag im Einsatz, sondern wurden anlassbezogen mobilisiert. Früher waren sie nicht wie heute mit großkalibrigen Schusswaffen ausgerüstet.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von der Regierung des US-Präsidenten Donald Trump, der ja kein großes Interesse an Lateinamerika zeigt? Ein Sprichwort besagt ja, dass es Nicaragua immer am besten geht, wenn die USA gerade in die andere Richtung schauen …

Aguilera: Was Trump genau vorhat, kann ich nicht einschätzen. Es gab aber diplomatische Initiativen, der US-Botschafter bei der Organisation amerikanischer Staaten besuchte kürzlich Nicaragua. Man könnte spekulieren, dass die USA und die Unternehmer Ortega vielleicht eine "weiche Landung" ermöglichen könnten, weil ihnen ein Machtwechsel durch eine Revolution nicht ins Konzept passt.

STANDARD: Was wurde eigentlich aus dem von Präsident Ortega vor vier Jahren groß angekündigten Nicaragua-Kanal, der mit chinesischer Hilfe errichtet werden hätte sollen?

Caracas: Der Kanal ist nur eines von Ortegas Großprojekten, die nie konkrete Formen angenommen haben. Da gibt es auch noch die Raffinerie El Supremo Sueño de Bolívar ("Bolívars größter Traum"), die 2007 angekündigt wurde, und das Wasserkraftwerk Tumarín in Matagalpa.

STANDARD: Wie ist das Verhältnis der Regierung zur katholischen Kirche? Dass sich Ortega plötzlich mit dem zuvor als Konterrevolutionär diffamierten Erzbischof Miguel Obando y Bravo arrangierte, verwunderte damals ja europäische Unterstützer der sandinistischen Bewegung ziemlich …

Aguilera: Diese seltsamen Allianzen waren Teil von Ortegas "Versöhnungspolitik", in deren Rahmen die Sandinisten einen Pakt mit ihren ehemaligen Feinden wie der Kirche und den Rechtsparteien schmiedeten.

STANDARD: Da war auch noch die Immunität für den wegen Korruption verurteilten Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (1997–2002) …

Caracas: Genau. Die Sandinisten nahmen immer reaktionärere Positionen ein und arbeiteten auch mit äußerst umstrittenen Regierungen anderer mittelamerikanischer Staaten und sogar mit den USA und dem Unternehmerverband zusammen. Um ihren Machterhalt sicherzustellen, arbeiteten die Sandinisten schließlich mit denen zusammen, die sie zuvor heftig kritisiert hatten.

STANDARD: Welche Position bezieht die katholische Kirche heutzutage?

Aguilera: Ortegas Partner Erzbischof Obando y Bravo ist vor vier Wochen verstorben. Die Kirchenhierarchie versucht, sich als Vermittler zu positionieren, auf Gemeindeebene gibt es aber auch Priester, die versuchen, Demonstranten vor den Übergriffen durch Paramilitärs zu schützen. Die Kirche ist in einen traditionalistischen und einen progressiven Flügel gespalten.

STANDARD: Gibt es Bischöfe, die die Proteste unterstützen?

Caracas: Durchaus. Monseñor Silvio Báez zum Beispiel hat wegen seiner kritischen Äußerungen Morddrohungen erhalten und steht nun unter dem Schutz der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH).

"Stopp der Repression gegen die Studenten!"

STANDARD: Wie würde sich Ihrer Ansicht nach die Lage entwickeln, wenn Präsident Ortega morgen zurückträte?

Aguilera: Der Übergang oder besser der Wiederaufbau des Landes, das in Schutt und Asche liegt, kann nur gelingen, wenn sich die verschiedenen Akteure einbringen. Da gibt es keine Zauberformel, und es wird sicher nicht von einem Tag auf den anderen gehen.

Ein Vorschlag wäre, eine Übergangsregierung einzusetzen, die die wichtigsten Forderungen der Demonstranten wie die Auflösung der bewaffneten Milizen umsetzt. Dann wären Neuwahlen erforderlich.

STANDARD: Glauben Sie, dass der Sandinismus reformierbar ist? Gibt es in der FSLN-Partei Tendenzen, ohne Ortega weiterzumachen?

Caracas: Das ist schwierig. Die Parteispitze hat deutlich gezeigt, dass sie hinter Ortega steht, und die Bevölkerung sieht mittlerweile den Sandinismus nicht mehr als Ideologie der sozialen Gerechtigkeit, sondern verbindet ihn mit Ortegas Machenschaften. (Bert Eder, 29.6.2018)