Die Dekompression beim Tauchen beginnt unter dem Wasserspiegel. Zehn Prozent aller Taucher haben Stickstoffblasen im Blut.

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Wasser ist Frank Hartigs Element. Nirgendwo fühlt sich der Tauchmediziner wohler als im tiefen Freiwasser. "Man muss das schon lieben, um im Winter bei drei Grad Wassertemperatur stundenlang 100 Meter tief im Achensee zu tauchen", versucht er, seine für Laien vermutlich unverständliche Leidenschaft zu erklären. Genau diese Liebe zum Unterwassersport war es, die den leitenden Oberarzt der medizinischen Notfallaufnahme der Innsbrucker Uniklinik zu einem weltweit anerkannten Spezialisten für Tauchmedizin werden ließ.

Einen solchen Experten würde man nicht unbedingt im gebirgigen Tirol vermuten, wo Hartig seit 25 Jahren lebt und arbeitet. Doch auch in kühlen Alpenseen lässt es sich vortrefflich abtauchen, wie er sagt: "Man muss dazu nicht am Meer wohnen." Zudem habe Innsbruck eine gewisse Tradition, was die medizinische Höhen- und Tiefenforschung angeht, die einander gar nicht so unähnlich sind. Denn beide Spielarten beschäftigen sich vornehmlich mit Fragen des Druckausgleiches. Hartig verweist auf den im Vorjahr verstorbenen und jahrzehntelang in Innsbruck tätigen Neurologen Franz Gerstenbrand, der als Pionier der Komaforschung galt und dazu auch tauchmedizinische Experimente unternommen hat.

Forschende Freigeister

"In diesem Wissenschaftsfeld sind forschende Freigeister am Werk", beschreibt Hartig den besonderen Charme seiner Fachrichtung. Die Faszination an der Tauchmedizin macht für ihn das Entdecken aus: "Wir bewegen uns in dieser Fachrichtung ständig an der Schwelle zum völlig Unbekannten." Wobei es eine unabdingbare Voraussetzung gibt, wie der Oberarzt erklärt: "Wer nicht selbst taucht, kann nie ein guter Tauchmediziner werden."

Hartig kennt sämtliche Spielarten des Tauchens – vom Apnoe- bis zum Höhlentauchen – und praktiziert die meisten von ihnen selbst. Sein wissenschaftlicher Fokus liegt auf dem sogenannten technischen Tauchen, das in größeren Tiefen um die 100 Meter stattfindet. Mit seiner Ehefrau Andrea Köhler, ihres Zeichens Molekularbiologin, teilt er diese Leidenschaft. Das Duo gilt weltweit als führend in Sachen Dekompressionsphysiologie für solche speziellen technischen Tauchprofile. Darunter versteht man alle körperlichen Prozesse, die im Zuge des Auftauchens ablaufen.

Denn bei der Rückkehr an die Wasseroberfläche passieren die meisten Tauchunfälle. Warum und wie der Körper bei der Dekompression reagiert, ist vielfach noch unklar. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass sich bei einem Tauchgang – abhängig von der Tiefe und Dauer – Stickstoff aus der Atemluft im Körpergewebe löst. Ändert sich nun der Umgebungsdruck beim Auftauchen, so gibt das Gewebe diesen Stickstoff wieder ins Blut ab. Dabei entstehen kleine Blasen, die zur Gefahr werden können.

Wie eine geschüttelte Cola-Flasche

Hartig veranschaulicht das mit einem Vergleich: "Man kann sich den Körper beim Auftauchen wie eine geschüttelte Colaflasche vorstellen, die man öffnen will. Um ein Überschäumen zu vermeiden, darf man den Druck nur immer wieder stückweise abbauen." Unter Wasser passiere dies durch Stopps während des Auftauchens. Wer zu schnell zurück an die Oberfläche kommt, der riskiert lebensbedrohliche Folgen und muss schnellstens zur Behandlung in eine Überdruckkammer.

Noch tappt die Wissenschaft bei vielem, was die Dekompression angeht, im Dunkeln. Für Hartig und Köhler eine Herausforderung. Im Auftrag des weltweit führenden U-Boot-Herstellers Thyssenkrupp erforscht das Duo Rettungsausstiege unter extremen Bedingungen. Dabei wird die Besatzung aus bis zu 300 Metern Tiefe aus dem U-Boot an die Oberfläche geschossen. Ziel ist es, diese extreme Rettung, die nach heutigem Wissensstand für den menschlichen Organismus eigentlich tödlich ist, überlebbar zu machen. Und es geht.

"Das ist echte Forschung, weil es dazu weltweit nur minimale Erkenntnisse gibt", kann Hartig seine Begeisterung kaum verbergen. Doch er darf nicht alles über die Ergebnisse seiner Untersuchungen verraten: "Vieles fällt unter strikte Geheimhaltung." Nur so viel: "Der Stickstoff wird vor dem Aufstieg enorm reduziert."

Kinder sollen nicht tauchen

Eine andere Frage, der Hartig mit seinen Forschungen auf den Grund geht, ist die der sogenannten High Bubbler. Das sind zehn Prozent der Taucher, die nach einem gewöhnlichen Tauchgang ungewöhnlich viele Stickstoffblasen im Blut aufweisen. Auch Kinder und Jugendliche seien davon betroffen: "Darum raten wir persönlich absolut davon ab, mit Kindern unter zwölf Jahren tauchen zu gehen, solange diese Mechanismen ungeklärt sind."

Tauchmedizin sei ähnlich wie die Formel 1 im Motorsport eine Art Avantgarde. Einige Erkenntnisse, die hier unter Extrembedingungen gewonnen werden, können in der Folge immer wieder für die Allgemeinheit genutzt werden. So war es die Tauchmedizin, die entdeckt hat, dass Sauerstoff unter hohem Druck nach einer gewissen Zeit schädlich sein kann. "Das ist ein großes Thema in der Intensivmedizin", erklärt Hartig. Heute weiß man, dass es schädlich für die Lunge ist, wenn man länger als 24 Stunden mehr als 50 Prozent Sauerstoff atmet.

Real Dive Data

Ein anderes Beispiel einer medizinischen Erkenntnis aus dem Tauchsport sind die Lungenshunts. Seit etwa acht Jahren weiß man, dass in der Lunge durch steigenden Druck Notschleusen geöffnet werden können, über die aber auch Gerinnsel ins Gehirn wandern können, die dann sogenannte paradoxe Schlaganfälle verursachen können.

Hartigs Leidenschaft für den Tauchsport wird nur durch seinen Forscherdrang übertroffen. Nach extremen Tauchgängen nehmen er und seine Frau an sich selbst Ultraschall- und Laboruntersuchungen sowie verschieden andere Testungen vor, um so "Real Dive Data" zu gewinnen: "Wir sind so ziemlich die Einzigen, die viele technische Profile selbst tauchen und auswerten. Denn wir wollen etwas Neues entdecken."