Kim Stanley Robinson: "New York 2140"
Broschiert, 813 Seiten, € 17,50, Heyne 2018 (Original: "New York 2140", 2017)
Oi, ein neuer Kim Stanley Robinson. Da ist die Vorfreude immer mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor verknüpft. Die letzte Veröffentlichung auf Deutsch, "Aurora", zeigte, dass KSR sehr wohl dazu in der Lage ist, eine fokussierte Erzählung abzuliefern, wenn er nur will. Für das davor erschienene "2312" brauchte man hingegen einen langen Atem (und während dessen prätentiöser Exkurse ein Sauerstoffzelt). Was also würde es diesmal werden? Die Titelgestaltung ließ schon vorab vermuten, dass KSR wieder ganz nach der Machart von "2312" vorgehen würde. Glücklicherweise ist ihm die Wiederholung aber nicht hundertprozentig gelungen.
Jahr und Schauplatz werden im Titel genannt. Wir befinden uns in einer Zeit, in der der Meeresspiegel nach zwei globalen Flutwellen wieder zur Ruhe gekommen ist, wenn auch auf 15 Meter höherem Niveau. New York ist seit damals zu weiten Teilen überflutet, aber beharrlich bei Business as usual geblieben. Im neuen Supervenedig ragen Wolkenkratzer aus dem Wasser, zwischen denen der Verkehr via Hochbrücken, Luftschiffe und vor allem Boote so dicht ist wie eh und je: Wie an den meisten Wochentagen ließ ich den Wasserläufer auf der Twenty-Third nach Osten zum East River schnurren. Der Weg durch die südlichen Stadtkanäle wäre zwar kürzer gewesen, aber schon kurz nach Tagesanbruch herrschte auf der Park Avenue Richtung Süden immer ein grauenvoller Verkehr, und am Union-State-Bacino würde es umso schlimmer sein. Echte New Yorker lassen sich eben von nichts unterkriegen, auch nicht vom Untergang.
Die Handlung
Es gibt eigentlich keine.
Die Personen
KSR legt "New York 2140" als Panorama an und verteilt dieses über die Erzählstränge von acht Einzelpersonen respektive Duos; ein voller Umlauf dauert jeweils etwa 100 Seiten. Alle Protagonisten leben im selben Wolkenkratzer, dem Met Life Tower am Madison Square. Entsprechend eng vernetzt sind ihre Geschichten – nicht nur, aber auch, weil das Met genossenschaftlich geführt wird, inklusive Vorstandstreffen, Mitgliederausschuss und Speisesaal. Es ist damit eines von vielen Beispielen, wie im Big Apple neue alte wirtschaftliche Organisationsformen aufleben. Generell ist Wirtschaft das eigentliche Thema des Romans: Gentrifizierung, Vampirkapitalismus und Ansätze zu einer ökonomischen Revolution sind einige der zentralen Aspekte.
Für Franklin Garr, Trader bei einem Hedgefonds, ist Wirtschaft sogar das Leitmotiv seines Lebens – zumindest bis er grollend, aber doch seine Gefühle entdeckt. Charlotte Armstrong hingegen arbeitet bei einer halbstaatlichen Agentur als Anwältin für Flut-Migranten und kennt die weniger glamourösen Seiten New Yorks nur allzu gut. Während Amelia Black buchstäblich über den Dingen schwebt: Sie gondelt mit einem Luftschiff durch die Gegend und ist Star einer Cloud-Show über Tiere, die in neue Lebensräume evakuiert werden.
Vlade Marovich muss als Supervisor des Met feststellen, dass jemand den Hochwasserschutz des Gebäudes zu sabotieren scheint: Ein Fall für NYPD-Inspektorin Gen Octaviasdottir, die daneben aber auch dem Verschwinden zweier weiterer Hausbewohner nachgehen muss, nämlich der beiden Programmierer Jeff und Mutt. Jeff hat einen Weg gefunden, Geldflüsse an der Börse zu manipulieren, und ist damit offenbar irgendjemand ins Gehege gekommen. Und zu guter Letzt wären da noch die beiden obdachlosen Jungen Stefan und Roberto, die im Umfeld des Met leben und unter Wasser nach Schätzen suchen. All diese verschiedenen Geschichten verknüpfen sich in Summe zu einem einzigen Geflecht.
Ein bisschen arty-farty muss schon sein
Damit das Ganze nur ja nicht zu konventionell erscheinen könnte, setzt KSR auf verschiedene Erzählformen. So ist Egozentriker Franklin der Einzige, der in erster Person sprechen darf. Gute Wahl übrigens, weil seine politisch unkorrekten Ansichten die Handlung immer wieder auflockern – etwa zum Thema Fleischessen: Ich selbst hatte allerdings im direkten Experiment herausgefunden, dass mir die unvermeidliche Anthropomorphisierung der Schweine aus der Hausfarm beim Töten keinerlei Zurückhaltung auferlegte, denn wenn man sich ein Schwein als Mensch vorstellt, hat man es mit einem echt hässlichen Menschen zu tun, der einem vermutlich dafür dankbar ist, wenn man ihn von seinem Leid erlöst.
Der Strang um Jeff und Mutt wiederum wird vorwiegend in Dialogen erzählt, was mitunter einem Hörspiel nahekommt und "New York 2140" zum Einstieg ein "sokratisches" Gespräch beschert, wie es sie in "2312" nur allzu viele gegeben hatte. Ich bleibe bei meiner Meinung, dass KSR eher zum Belehren als zum Diskutieren neigt: schön ersichtlich an einem "Protagonisten", den ich noch nicht erwähnt habe und der im Buch schlicht als der Bürger bezeichnet wird. Es ist eine Art Meta-Erzähler, der – in relativ patzigem Ton – lexikalisches Wissen zum Besten gibt und die Hintergründe der Handlung erklärt.
Womit wir schon mitten in den offenbar unvermeidlichen Robinson'schen Manierismen wären. Wie schon in "2312" gibt es zwischen den Kapiteln wieder jede Menge Zitate und Anekdötchen aus der gesamten Kulturgeschichte, die möglicherweise irgendwie zur Handlung passen oder auch nicht. Diesmal hab ich sie einfach überblättert. Alle 100 Seiten kurz nachgeschaut, ob ich sie vielleicht doch brauche. Nein. Weiterblättern. Deshalb musste ich auch sehr lachen, als KSR seinen (Wut-)Bürger genau das ansprechen lässt: ... wobei diejenigen von euch, die so schnell wie möglich wissen wollen, wie es mit den drolligen Individuen in dieser Geschichte weitergeht, gerne zum nächsten Kapitel weiterblättern können (und ich sehe zu, dass alle weiteren Erklärtiraden, alle weiteren Infodumps in Rot gedruckt sein werden, damit ihr wisst, dass ihr sie überspringen könnt). Damit bin ich offiziell aus den aufgeschlosseneren, intellektuell flexibleren unter Robinsons Lesern aussortiert worden, o Schmach.
Warum es mir letztlich trotz allem gefallen hat
"New York 2140" enthält also alles, was mir "2312" seinerzeit verleidet hat. Dass ich diesmal doch mit Interesse am Ball geblieben bin, hatte verschiedene Gründe. Die Taktik, Unnötiges zu überspringen, hat natürlich geholfen (nicht nur den Zitatkram, es gab auch genug Füllmaterial im Haupttext, etwa ausgedehntes Schlittschuhlaufen auf den zugefrorenen Kanälen der Stadt). Auch die Unterschiede in der Grundanlage der beiden Romane spielten aber eine wichtige Rolle. New York ist schlicht eine engere Klammer als das Sonnensystem und hält das Ganze daher besser zusammen.
Zudem waren die Figuren diesmal einfach interessanter – ich erinnere mich mit Schrecken an den weichgespülten Saturn-Bewohner Fitz Wahram aus "2312", eine der schnarchnasigsten Romanfiguren, die mir in meinem ganzen Leserleben untergekommen sind. Überhaupt ist die treffsichere Zeichnung der Menschen eine der größten Stärken von "New York 2140". Sei es Flüchtlingshelferin Charlotte, die weiß, dass Dankbarkeit für beide Seiten ein sehr unangenehmes Gefühl ist. Seien es die beiden Schatzsucher Stefan und Roberto, die die volle Abgeklärtheit von Streetkids nach außen tragen und trotzdem erkennbar einfach Kinder sind. Oder sei es Franklin, dessen Ich-Bezogenheit regelmäßig für Facepalm-Momente sorgt, woraufhin er sich stets erschrocken fragt, was er denn jetzt wieder falsch gemacht haben könnte. Der "Bürger" mag all diese Figuren als drollig abtun – mich haben sie jedenfalls für sich gewonnen.
Nichtsdestotrotz darf KSR als Nächstes gerne wieder einen Roman ohne Jahreszahl im Titel bringen.