In den späten 50ern war der 300 SL eines der progressivsten Autos der Welt, heute fällt er unter Klassiker – die Definition von Luxus ist im steten Wandel.

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Die künftigen vier Grillwelten bei Daimler.

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Zur Untermalung der künftig vier Grillwelten kreierte man bei Mercedes vier stilisierte Damen, lebensgroß, mit den Ausprägungsformen Performance (AMG), Ultimate (Maybach), Modern (Benz) und Progressive Luxury (EQ).

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Chefdesigner Gorden Wagener vor seiner Skulptur "Aesthetics Progressive Luxury" – ein Hinweis auf Vergangenes und Baldiges.

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Grotesk.

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Franz Xaver Messerschmidt zeigte in seinen berühmten grimassierenden Charakterköpfen alle möglichen physiognomischen Zustände, immer auf Basis des eigenen Gesichts. Mit Johann Caspar Lavater wurde in der Goethe-Zeit die Physiognomik zur regelrechten Mode. Und wie viele Gesichter kann Mercedes machen? Das war die Ausgangsfrage, auf die der deutsche Traditionshersteller, der leider nicht mehr deutsch spricht, in Sindelfingen im Workshop "Design Essentials II" Antwort zu geben versprach.

Kurz und lang

Die kurze lautet: vier. Die etwas längere: Mercedes-Benz, Mercedes-AMG, Mercedes-Maybach, EQ. Die ausführlichere: Chefdesigner Gorden Wagener hat in den vergangenen Jahren sämtlichen Mercedes-Modellen seinen Stempel aufgedrückt, ausständig ist nur noch das Prachtstück SL. Dabei ist es ihm – anders als Audi – sogar gelungen, die Verwechselbarkeit halbwegs hintanzuhalten, die Limousinen, Coupés und SUVs als solche klar erkennbar zu gestalten – wenn die dann auch untereinander kaum auseinanderzuhalten sind; C gleich E gleich S.

Jetzt wird die zweite Stufe gezündet, und der Masterplan lautet: Differenzierung der Submarken unter Beibehaltung der Philosophie der "sinnlichen Klarheit". Mercedes-Benz, AMG, Maybach und die E-Mobilitäts-Abteilung EQ sollen klar als Teil des Ganzen erkennbar bleiben, jeder für sich aber einzigartig dastehen. Und weil nichts so schnell altert wie Hightech, wird die grassierende Digitalisierung von einer wohltuenden Aufwertung analoger Designinhalte begleitet.

Floskeln

Jetzt ist es so, dass man bei einer Veranstaltung wie dieser halb erschlagen wird mit Marketing-Floskeln. Dreie waren es bei den diesmaligen Design Essentials besonders: holistisch, seamless (auf das Allerwesentlichste reduziert, Stichwort: Bauhaus), Luxus.

Dabei ist die Sache richtig spannend, wie etwa der Umstand, dass man trotz aller Dementis die Fernperspektive heraushören könnte, dass Maybach als Mercedes-Maybach ähnlich wie Mercedes-AMG – GT 2- und GT 4-Türer – ein auch modellseitig partiell eigenständiger Auftritt gewährt werden könnte. Der Stufenheck-SUV "Ultimate Luxury" ist nur die jüngste Studie, die den Appetit nährt. So auch brächte man sich gegen Rolls-Royce und Bentley besser in Stellung. Überhaupt wirke Mercedes-Maybach "meiner Meinung nach geschmackvoller" als beide Konkurrenten. Der Design-Capo darf das, muss das wohl sogar sagen.

Grundberührung

Wagener jedenfalls, vor kurzem vom Ross gestürzt, ließ es sich trotz der Schmerzen nicht nehmen, auf Krücken in den Vortragssaal zu humpeln und der angereisten Journaille vom hoffentlich bequemen Fauteuil aus sein Vorhaben zu veranschaulichen, Mercedes als Luxusautomarke Nummer eins weltweit multipel zu fixieren.

In der ästhetischen Wahrnehmung sei das Exterieur die Zone des ersten Kontakts. Die des zweiten das Interieur, des dritten jene der Bedienung. Und die Außenerscheinung, die lebe von den Proportionen, so die nicht ganz nigelnagelneue Erkenntnis. Die Griechen mit ihrem Schönheitsideal haben es längst gewusst, auch der Goldene Schnitt war schon in der Antike bekannt, über den gelenkten Blick lese man bei Vitruv nach.

Sternenkunde

Und damit, grillt den Stern: Der Blick wird künftig auf vier, eigentlich fünf verschiedene Kühlergrills gelenkt, denen dann in der inneren und konzeptuellen Gesamtausprägung typische Submarkenaspekte folgen. Benz trägt weiterhin das klassische Gesicht mit Stern auf der Motorhaube oder im horizontal ausgeprägten Grill, AMG den an ein grimmiges Gebiss erinnernden Panamericana-Grill, bei Maybach stehen die Rippen ebenfalls vertikal, ästhetisch aber viel filigraner, nobler, und bei EQ ist alles glatt wie ein Smartphone, mit Mordstrummstern inmitten.

Viele Gesichter, alle funktionieren. Ganz wie bei Messerschmidt. Zu vermeiden gilt es, wie beim barocken Meister, nur das Groteske. Und die Schönheit, sie sei zeitlos. (Andreas Stockinger, 9.7.2018)