Wird in einem offenen Brief mit massiven Vorwürfen konfrontiert: Gustav Kuhn, künstlerischer Leiter der Festspiele Erl.

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Am Sonntag enden die diesjährigen Tiroler Festspiele in Erl mit Richard Wagners "Götterdämmerung". Gustav Kuhn, Gründer, künstlerischer Leiter und seit 1997 A und O des Klassikfestivals, wird die Aufführung wohl mit gemischten Gefühlen dirigieren.

Angefacht von der #MeToo-Debatte wurden im Februar erstmals Vorwürfe gegen den 72-jährigen Maestro laut. Der Tiroler Blogger Markus Wilhelm hatte auf dietiwag.org unter Berufung auf anonyme Quellen von Missständen in Erl berichtet. In deftigen Worten wurden Lohndumping, schlechte Arbeitsbedingungen, vor allem aber Machtmissbrauch bis hin zu sexuellen Übertretungen des Intendanten angeprangert.

Sowohl die Festspiele als auch Kuhn klagten Wilhelm. Erhebungen der Innsbrucker Staatsanwaltschaft liefen ins Leere. Eine Verhandlung zwischen Kuhn und Wilhelm blieb bislang ohne Ergebnis, zuletzt wollte man sich in Teilen außergerichtlich einigen. (Details: siehe Chronologie)

Jetzt aber könnte sich das Blatt nochmals wenden: Am Mittwoch veröffentlichten fünf ehemals in Erl beschäftigte Künstlerinnen einen offenen Brief, in dem sie neuerlich schwere Vorwürfe gegen Kuhn erheben – diesmal auch namentlich und eigenhändig unterschrieben.

"Unerwünschte Küsse"

"Wir sind Betroffene, Zeuginnen oder Mitwissende davon, dass es zu unserer Zeit anhaltenden Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vonseiten des künstlerischen Leiters gegeben hat", erklären die Unterzeichneten. Es sei zu "unerwünschten Küssen auf den Mund oder auf die Brust, Begrapschen unter dem Pullover, Griff zwischen die Beine" gekommen, "von obszöner verbaler Anmache ganz zu schweigen".

Darüber hinaus habe Kuhn "massive seelische Gewalt" in Form von Mobbing und öffentlicher Bloßstellung angewandt. "Wer den Spielregeln nicht folgte, wurde mit Repressalien und Ausgrenzung bestraft: Versprochene Rollenaufträge und Verträge wurden zurückgezogen."

Empört zeigen sich die Künstlerinnen darüber, dass "trotz der allseits bekannten Faktenlage die notwendigen Konsequenzen auf sich warten lassen, sowohl vonseiten der Präsidentschaft der Festspiele als auch vonseiten der zuständigen Politik".

Die fünf Künstlerinnen, die den Brief unterschrieben haben, waren zwischen 1998 und 2017 in Erl tätig. Es handelt sich um Aliona Dargel, Violinistin aus Weißrussland, die deutsche Sopranistin Bettine Kampp, Violinistin Ninela Lamaj aus Albanien bzw. Italien, Mezzosopranistin Julia Oesch und Sopran Mona Somm aus der Schweiz.

"Erl wird nicht mehr das sein, was es war"

In die Wege geleitet wurde der Brief vom Verein Art But Fair, der sich für faire Arbeitsbedingungen im Musikbetrieb einsetzt. Oesch sprach im Interview mit dem Ö1-"Kulturjournal" Mittwochabend von "sexuellen Übergriffen, die einige von uns erleben mussten, auch ich persönlich".

Alles , was in dem Brief angeführt werde, habe sie auch so erlebt, betonte Oesch. Man sei auch regelmäßig von Kuhn zusammengeschrien worden. Dass man in Tränen ausbrochen ist, sei "an der Tagesordnung gewesen". "Es waren teilweise solche Angriffe, die so tief ins Persönliche gingen, dass man teilweise verzweifelt die Bühne verlassen musste".

Die Künstlerinnen seien "nicht angstfrei, aber wir sind mutig und uns trotzdem der Tragweite bewusst", sagte die Mezzosopranistin und meinte zudem: "Erl wird vielleicht nicht mehr das sein, was es war". Die Verantwortlichen dort würden nun "sicher zurückschlagen", aber sie sehe sich in der gesellschaftlichen Verantwortung. Man müsse Dinge ansprechen. "Wenn wir wollen, dass es der nächsten Generation nicht mehr so geht wie uns, dann müssen wir mutig sein, auch wenn es teilweise Überwindung kostet", erklärte Oesch.

"Unwürdige Menschenjagd"

Kuhns Anwalt Michael Krüger sprach in einer ersten Reaktion auf Anfrage des STANDARD von einer "unwürdigen Menschenjagd gegen einen großartigen Künstler, die hier entfesselt wird". Sein Mandant werde sich mit "Mitteln des Rechtsstaates zu wehren wissen". Derart schwerwiegende Angriffe ohne jede Rückfrage und ohne Kenntnis der näheren Umstände zu veröffentlichen sei verantwortungslos. Krüger verweist überdies auf eine Unterschriftenliste mit fast 150 Namen von Künstlern der Festspiele, die damit gegen die "unbewiesenen Anschuldigungen" protestieren und Intendant Kuhn ihrer Loyalität versichern würden.

Christoph Orgler, Anwalt des Bloggers Wilhelm, will vorerst wenig sagen, nur so viel: "Der Brief scheint das, was Herr Wilhelm veröffentlicht hat, in Teilen zu bestätigen." Man müsse aber erst erörtern, was das für seinen Mandanten nun bedeutet.

Für Kuhn, das ist klar, steigt nun der Rechtfertigungsdruck. "Die neuen Vorwürfe machen mich sehr betroffen, und wir nehmen diese sehr ernst", ließ Kulturlandesrätin Beate Palfrader (ÖVP) wissen, die ebenso wie Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) "volle Aufklärung" fordert. Neben den Subventionsgebern Bund und Land ist auch Festspielpräsident und Hauptsponsor Hans Peter Haselsteiner gefordert.

"Vorverurteilung über das Internet unfair"

Der ließ am Donnerstag in einem Antwortschreiben verlautbaren, dass er für weitere Schritte das Ende der laufenden Festspiele abwarten will. Er sei durch Offenen Brief "einerseits schockiert und andererseits überrascht" gewesen, so Haselsteiner, der versichert, dass den Anschuldigungen "mit Ernsthaftigkeit und Akribie" nachgegangen wird.

Essei, um die Untersuchungen zielführend vorantreiben zu können, "im hohen Masse wünschenswert, wenn nicht gar unabdingbar notwendig, dass Sie Ihre Betroffenheit bzw. Zeugnislegung der eigens für diese Fälle bestellten unabhängigen Ombudsfrau anvertrauen", meint Haselsteiner in dem Schreiben.

Die Festspiele hätten "alle zu Gebote stehenden Mittel ergriffen, um die bisher erhobenen Vorwürfe aufzuklären und zukünftige zu verhindern". Die Empörung über das Ausbleiben "notwendiger Konsequenzen" aus einer "allseits bekannten Faktenlage" teile er nicht, so Haselsteiner, der eine Vorverurteilung von Maestro Kuhn über das Internet für im höchsten Masse unfair hält.

Grüne fordern vorläufige Suspendierung

Konsequenzen fordern indes der Kultursprecher der Tiroler SPÖ, Benedikt Lentsch, und die Nationalratsabgeordnete Selma Yildirim. Die Vorwürfe bezeichnen sie als "erschütternd". "Für Bund und Land ergibt sich in Sachen Erl ein klarer Handlungsauftrag: Es müssen Konsequenzen gezogen und Förderungen abgestellt werden", fordern die SPÖ-Politiker. Die Tiroler Grünen, Koalitionspartner der ÖVP im Land, werden konkreter: Kuhn solle bis zur Klärung aller Vorwürfe durch die Staatsanwaltschaft suspendiert werden. Dass die Festspiele diese Woche noch in vollem Gange sind, könne kein Argument sein.

Die Innsbrucker Staatsanwaltschaft ließ verlautbaren, dass man den Vorwürfen von Amts wegen nachgehe. Für Gustav Kuhn gilt die Unschuldsvermutung. (Stefan Weiss, 25.7.2018)