Es werden sich gravierende Auswirkungen für die Ausbildung von Juristen ergeben.

Illustration: Felix Grütsch

Mein Jusstudium habe ich 1970 abgeschlossen. Die Veränderungen in der juristischen Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten habe ich hautnah miterlebt. Und natürlich habe ich auch mitbekommen, wie Juristen zuvor gearbeitet hatten. Denn in der Juristerei stehen wir in einem ganz besonderen Maß auf den Schultern unserer Vorgänger. Das gilt für die Rechtswissenschaft genauso wie für die Rechtsprechung. Immer wieder muss man sich damit auseinandersetzen, wie ein Rechtsproblem bisher verstanden und gelöst wurde.

Das hängt auch damit zusammen, dass die großen Gesetzeswerke zum Teil ein wahrhaft ehrwürdiges Alter erreicht haben. Das ABGB, das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, hat 2011 seinen 200. Geburtstag gefeiert. Und noch immer ist ein großer Teil der Bestimmungen unverändert; sie gelten in der "Stammfassung". Natürlich muss man sich fragen, wie das gehen kann, da sich das Leben seither doch grundlegend verändert hat. Möglich ist das nur, weil Rechtsanwendung eben mehr ist als bloßes Gegenüberstellen von Norm und Sachverhalt. Rechtsanwendung ist ein kreativer Akt, in dem der Wortsinn zwar die äußerste Grenze bildet, aber innerhalb dieser Grenze eine Lösung gesucht wird, die dem Sinn des Gesetzes entspricht.

Wie hat sich die juristische Arbeit in den letzten 100 Jahren entwickelt, und wie wird es weitergehen? Gleich bleiben wird die juristische Methode, die Methode, nach welchen Regeln Gesetze ausgelegt und auf einen Sachverhalt angewendet werden, weiter verändern werden sich die Mittel, die eingesetzt werden, um beides zu erreichen: die richtige Auslegung und die richtige Anwendung.

Als ich nach meinem Studium an der Universität zu arbeiten begann, bestand ein großer Teil meiner Tätigkeit darin zu recherchieren. Nachzuschauen, was bisher zu einem Rechtsproblem geschrieben und entschieden worden war. Das beschränkte sich nicht nur auf die letzten Jahre. Es kam nicht selten vor, dass ich in Glaser-Unger (GlU) oder in Glaser-Unger Neue Folge (GlUNF) nach Entscheidungen suchte. Beides sind Sammlungen von "civilrechtlichen Entscheidungen des k. k. Obersten Gerichtshofes", wobei in GlU Entscheidungen von 1853 bis 1897 und in GlUNF von 1898 bis 1915 enthalten sind.

Gezielte Suche

Wie suchte man gezielt nach Entscheidungen und Literaturstellen zu einem bestimmten Rechtsproblem? Einen Index der Rechtsmittelentscheidungen und des Schrifttums (Index Hohenecker) gab es erst ab 1946. Ich begann die Suche daher regelmäßig in Kommentaren und hantelte mich von dort weiter zu Entscheidungen und Literaturstellen, die im Kommentar zitiert waren. Auffinden und nachlesen konnte man nur die in Fachzeitschriften und Entscheidungssammlungen veröffentlichten Entscheidungen.

Was nicht veröffentlicht war, war nicht leicht zugänglich. Außer man war wissenschaftlich tätig oder bei der Finanzprokuratur – sie ist der Anwalt der Republik und vertritt sie in Rechtsstreitigkeiten – und hatte daher Zugang zum Evidenzbüro des Obersten Gerichtshofs. Als Rechtsanwaltsanwärterin habe ich es als unfair empfunden, dass die Finanzprokuratur als Gegnerin in einem Gerichtsverfahren unveröffentlichte Entscheidungen zitierte. Denn anders als sie hatte ein Rechtsanwalt keine Möglichkeit, solche Entscheidungen aufzufinden und sich auf sie zu stützen. Im Evidenzbüro waren in Kästen auf Karteikarten Rechtssätze zu den Gesetzesbestimmungen vermerkt, und zwar alle Entscheidungen, nicht nur die veröffentlichten. Lesen konnte man die Entscheidungen in der Zentralbibliothek im Justizpalast. Dort wurden und werden alle Entscheidungen gebunden nach Senaten und Jahrgängen archiviert.

Die Digitalisierung aller Rechtssätze und ihre Aufnahme in das Rechtsinformationssystem des Bundes Ende der 1990er-Jahre haben nicht nur diese Ungleichbehandlung beendet. Sie haben – das ist nicht übertrieben – die juristische Arbeit grundlegend verändert, ja geradezu revolutioniert. Denn seither gibt man einen Paragrafen oder ein Suchwort in die Suchmaske des Rechtsinformationssystems Judikatur ein und erhält alle Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und auch ausgewählte Entscheidungen von Gerichten zweiter Instanz dazu angezeigt. Mit einem Klick ist man beim Volltext. Was bisher Stunden oder sogar Tage gedauert hatte und zwangsläufig immer unvollständig geblieben war, war von nun an in kurzer Zeit erledigt.

Ist es damit leichter geworden, die richtige Lösung für ein Rechtsproblem zu finden? Nicht zwingend. Zwar wird man nicht gerade von einem Desinformations-Informations-Paradoxon – je mehr Informationen, desto weniger Wissen – sprechen können, doch die Fülle an zu verwertendem Material kann vom eigentlichen Problem ablenken. Es kann leicht passieren, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und vergisst, worum es eigentlich geht: Es geht darum, eine Lösung zu finden, die dem Sinn des Gesetzes und den tatsächlichen Umständen gleichermaßen gerecht wird. Auch ist die Versuchung groß, Entscheidungen, Schriftsätze und juristische Aufsätze durch Copy and Paste, durch Kopieren und Einfügen, geradezu aufzublähen, um ihnen einen besonders wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Eigene Gedanken und Überlegungen des Verfassers sucht man dann oft vergebens.

Die digitalisierte Zukunft hat in der Juristerei somit längst begonnen. Und sie wird sich weiter verstärken. Suchmaschinen werden sich nicht mehr nur darauf beschränken, passende Entscheidungen und Literaturstellen anzuzeigen, sie werden einen Entscheidungsvorschlag gleich mitliefern. Das wird all jene Bereiche grundlegend verändern, in denen eine große Zahl gleichgelagerter Fälle zu entscheiden ist. Wie etwa in der Schadensabteilung einer Versicherung. Hier werden Algorithmen aus den bisher erledigten Fällen ableiten, wer für einen Schaden haftet und wie hoch der Ersatzbetrag ist.

Die Digitalisierung in diesem Bereich bringt aber keine grundlegende Änderung der Arbeitsweise. Denn schon bisher wurden Rechtsprobleme durch den Vergleich mit gleichgelagerten Fällen zu lösen gesucht. Das war und ist keine Frage der Bequemlichkeit, sondern folgt aus dem Anspruch, Gleiches gleich zu behandeln, um damit zu einer – zumindest in formaler Hinsicht – gerechten Lösung zu kommen. Gravierende Auswirkungen werden sich daraus aber für die Ausbildung junger Juristinnen und Juristen ergeben. Sie haben bisher vor allem dadurch gelernt, dass sie den Sachverhalt mit gleichgelagerten Fällen verglichen und Lösungsvorschläge erarbeitet haben. Nimmt ihnen das der Computer ab, dann haben sie auch weniger Gelegenheit, die Anwendung von Gesetzesbestimmungen auf Sachverhalte zu üben.

Im Gegensatz zu elektronisch erstellten Entscheidungsvorschlägen geradezu disruptiv wird sich der Einsatz von Blockchains auswirken. Mit Blockchains können Transaktionen dezentral dokumentiert, digital abgebildet und authentifiziert werden. Das hat zwei ganz große Vorteile: Es steht fest, dass die Transaktion genauso stattgefunden hat, wie sie dokumentiert ist. Und – genauso wichtig – es ist nicht möglich, sie nachträglich zu verändern. Damit kann es keine Beweisschwierigkeiten geben, wenn etwa bestritten wird, dass ein Vertrag so und nicht anders zustande gekommen ist.

Mit Blockchains lassen sich auch sogenannte Smart Contracts erstellen. Diese intelligenten Verträge sind kleine Programme, die automatisch ausgeführt werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Sie können klassische Verträge auch dann ersetzen, wenn es um komplexe Vereinbarungen geht. Denn Smart Contracts können beliebig kompliziert sein. Da sie immer ganz genau so ausgeführt werden, wie sie geschrieben sind, entscheiden letztlich die Programmierer, wie die Verträge in der Praxis umgesetzt werden. Damit sollten die Programmierer eigentlich auch dafür verantwortlich sein, wenn Vertragspartner meinen, der Vertrag gebe die Vereinbarung nicht richtig wieder. Es werden neue Bestimmungen notwendig sein, um bisher nicht gegebene Risiken abzudecken.

Was bedeutet der Einsatz von Blockchains für Rechtsanwälte und Notare? Sie werden nicht mehr gebraucht, wenn es darum geht, den Inhalt eines Vertrages zu dokumentieren. Wenn überhaupt noch notwendig, beschränkt sich ihre Rolle darauf, beim Aushandeln des Vertrages zu beraten. Doch auch das wird an Bedeutung verlieren, denn Vertragsmuster aller Art sind jetzt schon online verfügbar, und es werden noch mehr werden.

Ein weiterer Anwendungsbereich für Blockchains ist das Grundbuch. Als junge Juristin habe ich gerne im Grundbuch nachgeschaut. Die Liegenschaften waren in dicken Folianten verzeichnet, die in einem eigenen Raum im Bezirksgericht aufgestellt waren. Wenn man Kurrentschrift lesen konnte, konnte man die Besitzverhältnisse und Belastungen einer Liegenschaft bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. 1980 wurde mit der Umstellung auf das elektronisch geführte Grundbuch begonnen. Wird das Grundbuch auf Blockchain umgestellt – wie etwa in Honduras, Ghana und Georgien -, dann sind die Eintragungen transparent und fälschungssicher.

Komplette Überwachung

Ähnlich einschneidend wie Blockchains werden sich auch die neuen Aufklärungs- und Überwachungsmethoden auswirken. Mit einer DNA-Analyse können Verbrechen jetzt schon Jahrzehnte nach der Tat aufgeklärt werden. Die Methoden werden ständig verfeinert. Verbrecher werden in Zukunft noch weniger damit rechnen können, unentdeckt zu bleiben. Und durch die flächendeckenden Überwachungseinrichtungen wird es immer schwieriger werden, ein Verbrechen ungesehen und unbeobachtet zu begehen. Was 2009 noch eher zynisch geklungen hat – der Ausspruch von Eric Schmidt, dem damaligen CEO von Google: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun" -, wird dann vielleicht als vernünftige Handlungsanweisung verstanden werden. Eine schöne neue Welt? (Irmgard Griss, 27.7.2018)