Das Kreuz ist nicht nur ein religiöses Symbol, sondern es hat tatsächlich auch kulturelle Relevanz.

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Was kann man aus christlicher Sicht zu den gegenwärtigen politischen Bemühungen sagen, das zentrale Symbol des Christentums, nämlich das Kreuz Jesu, durch staatlichen Zwang vermehrt zur Geltung zu bringen? In Bayern muss etwa seit dem 1. Juni 2018 in allen Behörden gut sichtbar ein Kreuz angebracht werden. Und auch in Italien gibt es ähnliche Ideen. Wir befinden uns in Europa offenbar wieder in einer Zeit, in der die Religionen und ihre politische Bedeutung stark die Debatten bestimmen. Dieser Umstand hängt wohl vor allem mit dem immer größer werdenden Einfluss des Islam sowie mit den entsprechenden Verunsicherungen und auch mit den Gefahren zusammen, die aus einer extremistischen Ausübung dieser Religion resultieren.

Kulturelle Relevanz

Nun ist das Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol, sondern es hat tatsächlich auch kulturelle Relevanz, weil die Geschichte Europas sowohl im Guten als auch im Schlechten wesentlich vom Christentum geprägt ist. Das Europa, das wir heute kennen, wäre ohne das Christentum und die christlichen Kirchen nicht denkbar. Natürlich kann man Europa nicht auf eine einheitliche Tradition reduzieren. Unser kulturelles Erbe ist vielmehr differenziert und besteht aus einer an Widersprüchen und Konflikten reichen Vielfalt von Traditionen, die nur durch selektive Deutung auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Aber das Christentum ist doch, neben der neuzeitlichen Aufklärung und ihren Folgeerscheinungen, einer der wichtigsten Faktoren in diesem Zusammenhang, auch wenn der Einfluss der Kirche(n) seit langem massiv zurückgegangen ist. Was bedeutet das nun für die Politik? Ist das Kreuz in erster Linie ein kulturelles oder ein religiöses Symbol? Wer hat die Deutungshoheit über das Zeichen des Kreuzes?

Für manche ist das Kreuz einfach nur ein Zeichen für bestimmte moralische Haltungen und Werte, vielleicht ein Zeichen der Nächstenliebe. Andere sehen im Kreuz nichts anderes als ein Folter- und Hinrichtungsinstrument, das letztlich auf einen grausamen Gott verweist, dessen Existenz schon aus humanistischen Gründen abgelehnt werden müsse. Wieder andere, und das betrifft nun die aktuellen Entwicklungen, sehen im Kreuz vor allem einen identitätspolitischen Marker, dessen staatlich sanktionierte Präsentation im öffentlichen Raum als eine Art "Dominanzgeste" gegenüber dem Islam interpretiert werden könnte. Man versucht, über das Kreuz und das als eine "Zivilreligion" verstandene Christentum, das Eigene vor dem als bedrohlich wahrgenommenen Fremden zu schützen. Ganz analog dazu könnte man ja auch andere religiöse Symbole deuten, natürlich auch diejenigen im Islam. Häufig geht es hier um Fragen der kulturellen Hegemonie, also auch um Herrschaftsansprüche.

Deutung des Kreuzes

Ich denke, dass die Deutungshoheit über ein religiöses Symbol zunächst der jeweiligen Religionsgemeinschaft selbst zukommt. Die christlichen Kirchen sind gut beraten, die Deutung des Kreuzes nicht dem Staat oder irgendeiner politischen Bewegung, egal welcher Richtung, zu überlassen. Zumindest sollte es eine öffentliche Diskussion darüber geben, die auch auf theologische Inhalte eingehen muss. Im Sinne des christlichen Glaubens gilt: Das Kreuz ist das Zeichen der Erlösung der ganzen Menschheit durch Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes. In Jesus ereignet sich die Selbstmitteilung Gottes an die Welt. Durch Jesus haben die Menschen Zugang zum unbegreiflichen Gott, sie erkennen im Glauben an sein Wort, dass sie Anteil an seinem Gottesverhältnis haben und in diesem Sinn Söhne und Töchter Gottes sind. Das ist die Botschaft Jesu, die zwar nur willkürlich abgelehnt, aber auch nur im Glauben als wahr erkannt werden kann, nämlich indem man sie sich gesagt sein lässt und nach ihr lebt. Für diese Botschaft wurde Jesus ans Kreuz genagelt; sie war zu skandalös und ist es bis heute.

Jesus wurde ermordet, weil er für seine befreiende Botschaft Anhänger gefunden hatte, die aufgrund des Glaubens nicht mehr aus der Angst um sich selbst leben mussten und deshalb auch nicht mehr erpressbar waren. Er wurde von denen hingerichtet, die ihre Herrschaft darauf aufbauten, anderen Angst zu machen. Seine Botschaft stellte das damalige politisch-religiöse Herrschaftssystem völlig infrage. Deshalb musste er beseitigt werden. Das Kreuz ist darum das Zeichen der Erlösung, weil Jesus seiner Botschaft von einem bedingungslos liebenden Gott auch angesichts der Todesdrohung treu geblieben ist und sie dadurch bis zum Äußersten bezeugt hat. In diesem Sinn ist seine Lebenshingabe als ein Opfer zu bezeichnen. Gott selbst gibt sich für die Menschen dahin. Und Gottes Liebe ist auch stärker als der Tod.

So ist das Kreuz gerade auch ein herrschaftskritisches Zeichen, das alle weltlichen Absolutheitsansprüche und religiös verbrämten Unterwerfungsversuche radikal infrage stellt. Ein zwangsweise "verordnetes" Kreuz wäre deshalb ein Widerspruch in sich. Aus dem Kreuz lassen sich auch keine unmittelbaren moralischen oder politischen Konsequenzen ableiten. Deshalb sollte man es auch nicht zu irgendwelchen politischen Zwecken verwenden und dadurch missbrauchen. Der christliche Glaube versteht sich als Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung, die ja zwangsläufig in Verzweiflung an der Welt umschlagen muss. Er darf nicht, wie dies leider so oft geschieht, einfach auf "Moral und Werte" reduziert werden. Was objektiv richtig und falsch ist, das sagt uns schon unsere natürliche Vernunft, darüber müssen wir auch mithilfe einsichtiger Kriterien streiten. Gerade darauf bezieht sich ja etwa die katholische Rede vom "natürlichen Sittengesetz". Aber der Glaube befreit dazu, möglichst vernünftig, nämlich sachgemäß, nachhaltig und menschlich zu handeln und miteinander umzugehen. Diese Aussage kann nicht durch eine teilweise sehr problematische Kirchengeschichte widerlegt werden: Corruptio optimi pessima ("Die Korruption des Besten bewirkt das Schlimmste").

Kein Verkündigungsstaat

Selbstverständlich haben Politiker religiöse Überzeugungen, die sich auf ihre politische Tätigkeit auswirken, wobei im politischen Diskurs ausschließlich das bessere Argument ausschlaggebend sein sollte. Der säkulare Staat sollte aber gegenüber allen Religionen ein unparteiisches Verhältnis an den Tag legen. Der Staat hat nicht über die Wahrheit der Religionen zu entscheiden. Er muss vielmehr, notfalls mit Gewalt, den Religionsfrieden und die Freiheit der Religionsausübung im Rahmen der Gesetze sichern. In welchem Ausmaß er in die inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft eingreifen darf, ist eine schwierige Frage. Aber jedenfalls kann der Staat aus christlicher Sicht kein legitimes Subjekt der Glaubensverkündigung sein.

Diese wichtige Aufgabe müssen die christlichen Kirchen selbst, alle Glaubenden, wahrnehmen. Es geht darum, die Christusbotschaft gegenüber allen Anfragen und Einwänden freimütig, klar und überzeugend darzulegen, sodass sie wirklich als Evangelium, als eine froh machende und befreiende Botschaft verstanden und in Freiheit angenommen werden kann. Leider kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass diese Aufgabe, wenn überhaupt, oft nur ansatzweise erfüllt wird. (Robert Deinhammer, 3.8.2018)