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Im Gemeindebau wohnen viele Menschen dicht an dicht. Konflikte sind vorprogrammiert.

Foto: Picturedesk / Harald Jahn

Die Rettung ist zu laut. Die Polizei fährt zu schnell. Der Postler kommt zu spät, die Antenne steht zu schief, der Boden ist zu grau, und über mir quietscht es so. Die Zahl der Dinge, über die man sich beschweren kann, ist unendlich groß, und Herr W. reizt sie aus.

Weil es wenige Menschen gibt, die sich das gerne täglich anhören, erzählt er es denen, die dafür bezahlt werden: der Wiener Gemeindebau-Anlaufstelle namens Wohnpartner. Am anderen Ende der Telefonleitung sitzt einer der Konfliktvermittler im Wohnbetreuungsteam und hört es sich an. Und dann sagt er: Alles klar, Herr W., ich verstehe Sie, möchten Sie bei uns vorbeikommen und darüber reden? Und Herr W. sagt: Nein.

Nichts tun wollen

"Die schwierigsten Kunden sind die, die sich nur beklagen und nichts tun möchten", sagt Ebru Ayas. Sie ist eine Mediatorin im Wohnpartner-Team Wien-Favoriten. Dauerjammerer wie Herr W. seien die Minderheit. Die Mehrheit, so Ayas, rufe an, weil es Konflikte mit den Nachbarn gibt. Häufig ist jemand zu laut.

"Haben Sie schon mit ihm geredet", fragt sie dann. Oft hört sie: Nein. "Wenn ich frage, warum nicht, wissen sie es oft selbst nicht." Manchmal liegt es daran, dass sich die Nachbarn gar nicht kennen oder kennen wollen. Oft auch daran, dass man bei der Quelle des Unmuts gar kein offenes Ohr vermutet: Wer so arg stört, hört doch bestimmt nicht zu?

Ayas und ihre Kollegen geben dann Tipps fürs richtige Streiten unter Nachbarn. Oder, wie sie es formuliert: "Wir coachen sie." Aber wie streitet man eigentlich unter Nachbarn, und wie tut man es auf zivilisierte Weise?

Zum Beispiel: "Lieber erst am nächsten Tag anklopfen und reden – nicht in dem Moment, wo die Emotion hochkocht." Oder: "Nicht schimpfen, sondern wertschätzend sagen, was einen stört." Kommen diese Tipps auch an? "Ja", sagt Ayas, "und wenn nicht, dann landen sie eh wieder bei uns."

Konfliktpotential

Dann gibt es Einzelgespräche mit den Konfliktparteien und, wenn es notwendig ist und beide zustimmen, auch eine Mediation, an deren Ende eine Vereinbarung steht, die für beide gut passt. Dass die nunmehr versöhnten Ex-Streithansln danach noch immer zusammenkrachen, "das kommt eigentlich nie vor".

Das weitverbreitete Vorurteil, dass der Stoff, aus dem die meisten Gemeindebaukonflikte sind, entlang der Kampflinie "Alte Wiener gegen junge Migranten" entstehe, weist Ayas zurück. Oberflächlich betrachtet könne man zwar den Eindruck gewinnen, dass es ums Migrationsthema geht. Wer aber ein bisschen tiefer gräbt, kommt schnell drauf, dass es meistens etwas anderes ist", sagt auch Christa Pelikan.

Die Forscherin des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) in Wien hat sich im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts Konflikte in Wiener Gemeindebauten aus nächster Nähe angeschaut. Ihr Fazit: "Die allermeisten Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern sind im Grunde Generationenkonflikte und Lärmkonflikte."

Unten Pensionist, oben Familie

Auch Ebru Ayas macht diese Erfahrung. Der klassische Gemeindebaukonflikt geht so: unten alter Mann oder alte Frau, oben Familie mit kleinen Kindern. Die Kinder spielen, dabei fallen harte Gegenstände auf den Boden, die Kleinen schreien oder rutschen mit rollendem Plastikgefährt durch die Wohnung. Womöglich auch noch zu einer Zeit, wenn der Pensionist oder die Pensionistin das Mittagsschläfchen halten will. Was tut man da?

Ayas zeigt auf einen Flipchart. Mit Plakatstift ist der Grundriss einer Wohnung aufgezeichnet, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer – die Wohnung ist nicht groß. In ihrer Vereinbarung haben die zwei Nachbarn ausgemacht, ab welcher Uhrzeit die Kinder nicht mehr in jenem Zimmer Radau schlagen sollten, unter welchem sich das Schlafzimmer der Nachbarin befindet.

Für die junge Familie ist das kein Problem – und es wäre wohl auch schon früher machbar gewesen, hätte man nur gewusst, wo das Schlafzimmer der Nachbarin liegt und dass ihr der Lärm Probleme bereitet.

Tiefere Bedürfnisse

In vielen Fällen gehe es aber gar nicht darum, ein konkretes Lösungsmodell zu zimmern, sagt Pelikan. "Manche wollen einfach nur ihren Frust loswerden und brauchen jemanden, der ihnen zuhört, ohne zu verurteilen."

In den meisten Fällen, so Ayas, stecke hinter dem vordergründigen Streitpunkt ein tieferes Bedürfnis. Die alte Frau, die sich über die Kindertritte in der darüberliegenden Wohnung ärgert, vermisst vielleicht die eigenen Enkelkinder. Das bedeutet nicht, dass der Ärger über den Kindertrittlärm nur vorgeschoben ist. Der Störfaktor ist real. Aber sobald die Gefühle, die sonst noch da sind, ausgesprochen sind, falle es leichter, eine Lösung zu finden, erklärt Ayas.

Dass im Gemeindebau jemand gezielt hinausgeekelt wird, sei eher selten, meint Christa Pelikan. "Dieses strategische Einsetzen von Mitteln, um dem anderen das Leben schwerzumachen, ist eher in der oberen Mittel- bis Oberschicht verbreitet." In den unteren Einkommens- und Bildungsschichten komme es dagegen häufiger zu "spontanen Ausbrüchen".

In Summe gebe es im sozialen Wohnbau gar nicht so viel Streit, wie viele glauben, sagt Mediatorin Ayas, "der Zusammenhalt ist groß". Zugleich sei aber niemand gezwungen, die Wohnanlage auch als Begegnungsraum zu betrachten. Wer gar keinen Kontakt haben wolle, der bekomme im Gemeindebau auch das, was viele am Stadtleben lieben: den süßen Rückzug in die Anonymität. (Maria Sterkl, 12.8.2018)