Rückzug statt Abmarsch an die Grenze.

Illustrationen von Felix Grütsch

Illustration: Felix Grütsch

Wer vor fünfzig Jahren, am 21. August 1968, frühmorgens das ORF-Radio aufdrehte, wurde von stakkatoartigen Schlagzeilen aufgeschreckt: "Truppen des Warschauer Paktes haben kurz vor Mitternacht die Grenzen der ČSSR überschritten und rollen Richtung Prag."

Die Spitzen der österreichischen Regierung erfuhren diese Schreckensnachricht auch nicht früher als ihre Bürger, kein Geheimdienst hatte sie vorgewarnt, und so schliefen sie in ihren Urlaubsquartieren den Schlaf der Gerechten. Was für die jüngere Generation unvorstellbar ist: Sie hatten keinerlei Kommunikationsmittel – Handys gab es noch nicht; sie verfügten nicht einmal über einen Festnetzanschluss.

Und so ereigneten sich in dieser Nacht Szenen, die an Herzmanovsky erinnern: ORF-Generalintendant Gerd Bacher und der spätere Bundespräsident Thomas Klestil rasten im Morgengrauen ins Tullnerfeld, um den Kanzler zu informieren. Noch skurriler die Situation von Verteidigungsminister Georg Prader: Auch er hatte in seinem Ferienhäuschen weder Telefon noch Funk, sodass ein Gendarm über den Erlaufsee ruderte und dem Heereschef die Schreckensbotschaft zurief. Auch ich als junger Oberleutnant und Batteriechef erfuhr die Nachricht nicht von meinem Vorgesetzten, sondern aus dem ORF.

Keine Warnungen

Waren nur die Österreicher so schlafmützig? Nein, auch der Nato-Nachrichtenoffizier schlief laut "Spiegel" (Nummer 34/08) in Brüssel vorschriftsgemäß – es hatte weder von der CIA noch vom BND eine Vorwarnung gegeben. Dabei waren die Regierungen in Washington, London und Paris noch in der Nacht aus Moskau von der Militäraktion und ihrem Ziel informiert worden. Sie vergaßen jedoch, ihren militärischen Arm in Brüssel zu verständigen.

Zwar registrierte Österreichs Luftraumüberwacher schon vor Mitternacht Auffälligkeiten am Himmel über Prag, aber die Entscheider fehlten. Glücklicherweise war in dieser Nacht einer der fähigsten Generale des Bundesheeres erreichbar, der spätere Verteidigungsminister Brigadier Johann Freihsler, der in Ermangelung eines Politikers um drei Uhr früh das Heer selbstständig alarmierte. Bereits um 8.30 Uhr waren die wichtigsten Teile abmarschbereit, die Panzergrenadierbrigaden in Linz und Mautern; wenig später der Rest. Dann begann das lange, von den Soldaten mit wachsendem Unverständnis quittierte Warten auf den Abmarschbefehl, da die Regierung erst um 17 Uhr den Landesverteidigungsrat einberief.

Den Bären nicht reizen

Dabei hatte der russische Botschafter Boris Fjodorowitsch Podzerob Kanzler Josef Klaus bereits um 12.30 Uhr versichert, die Militäraktion sei nicht gegen Österreich gerichtet. Trotzdem trat Außenminister Kurt Waldheim dezidiert dafür ein, keine Heereseinheiten näher als 30 Kilometer an die Nordgrenze zu verlegen, auch keine Reservisten aufzubieten. Alles, um den "russischen Bären" nicht zu reizen.

Pech nur, dass es mit Weitra eine Kaserne gab, die innerhalb dieser Sperrzone lag. Brigadier i. R. Franz Teszar, langjähriger Kommandant des Truppenübungsplatzes Allentsteig, weiß zu berichten, dass das Abrücken der dortigen Schützenpanzerkompanie in den Süden nach Zwettl bei den Menschen an der Grenze auf wenig Verständnis stieß und sie dies dem Heer viele Jahre verübelten.

Ähnlich erging es den Reservisten des Grenzschutzbataillons "Mühlviertel", die sich am Vormittag des 21. 8. an ihren festgelegten Sammelplätzen in Uniform einfanden, um dort durch Gendarmeriebeamte zu erfahren, dass sie nicht eingesetzt würden, weil die Regierung keine Aufbietung von Reservisten wollte. Der späte Einsatzbefehl führte auch dazu, dass die Panzer aus Wels und St. Pölten-Spratzern erst in der Nacht durch Linz und Horn rollten, was ebenfalls zu einer Verunsicherung der Bevölkerung führte, die schon die Sowjets kommen sah.

Dabei hatte die Heeresspitze nach einer genauen Beurteilung durch das Heeresnachrichtenamt – die Vorbereitungen zum Einmarsch als Manöver getarnt liefen ja über Wochen unter dem Deckwort "Urgestein" – bereits einen genauen Einsatzplan zum Schutz der Grenze erstellt.

Um jeglicher Verunsicherung zuvorzukommen, verknappte die Regierung auch die Informationen an die Truppen im Einsatz. Als junger Oberleutnant führte ich 1968 in Linz-Ebelsberg eine Ausbildungseinheit, war also verfügbar. So fuhr ich am 22. 8. mit aktuellen deutschen und österreichischen Zeitungen zum Gefechtsstand meiner Brigade nördlich von Linz, wo mir der S 2, als der für die "Feindinformation" zuständige Stabsoffizier, das Zeitungspaket aus der Hand riss – es waren für ihn die ersten aktuellen Informationen.

Schwerer Imageverlust

General Horst Pleiner, ehemals oberster Soldat, analysierte für die Fachzeitschrift "Truppendienst" den Einsatz des Heeres im Jahr 1968. Für ihn brachte das zögerliche Verhalten der Regierung einen schweren Imageverlust bei der Bevölkerung, eine erhebliche Demotivation bei Reservisten, der Exekutive und dem Berufskader des Heeres. (Gerhard Vogl, 17.8.2018)