Die Demokratien, wie wir sie kennen, sind unter Druck geraten. Falsch ist es nicht, von einer Krise zu sprechen, auch wenn wir nicht so richtig wissen, worin sie eigentlich besteht. Gleichwohl befürchten die einen, Demokratien könnten schleichend einen Prozess des Niedergangs, gar eines langsamen Todes durchlaufen, andere diagnostizieren einen Verfall, an dessen Ende die autoritäre Transformation stehe.

Auf jeden Fall, und daran gibt es wohl kaum einen Zweifel, scheint für die liberale Demokratie, die die Herrschaft des Volkes mit dem Schutz der Grund- und Menschenrechte zu vereinbaren weiß, eine Zeit besonderer Anfechtungen angebrochen zu sein. Schon entstehen Gegenbilder einer "illiberalen Demokratie", die Abschied nehmen von dem, was der konstitutionellen Demokratie in den letzten Jahrzehnten heilig war: der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Justiz, der Freiheit von Presse und Meinungsäußerung.

Populismus: Symptom einer Krise – und Verschärfung

Der rasante Aufstieg des Populismus in Europa und auch in den USA ist Zeichen dieser grundlegenden Erschütterung der demokratischen Systeme. Populismen sind nicht per se "schlecht", sie zeigen an, dass etwas schiefläuft. Zumindest scheint das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten aus der Balance geraten zu sein, wenn es Bewegungen und Politikern gelingt, mit Slogans wie "Wir sind das Volk" gegen "Elite" und "Establishment" Stimmung zu machen und die politischen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen.

Aber so sehr Populismen Symptome einer Krise sind, so sehr verschärfen sie diese auch – und das in mehreren Hinsichten: Sie spalten Gesellschaften, sie grenzen aus, sie machen Front gegen Institutionen, die die behauptete Einheit von populistischem Führer und Volk infrage stellen. Sie wollen "direkt", also unmittelbar, ohne vermittelnde Instanzen regieren, administrieren, kommunizieren – am besten mit Dekreten und Twitter-Botschaften. Auf der Strecke bleiben Parlamente, Gerichte, Presse, kritische Bürger. Die plebiszitäre Führungsdemokratie, die sich auf das Volk beruft, aber darunter nur eine homogene, akklamierende Masse versteht, zerstört freiheitliche Demokratien, weil sie dem Autoritarismus und in letzter Konsequenz auch dem Totalitarismus Tür und Tor öffnet.

Die Polarisierung Europas

Der Migrationskrise vom Herbst 2015 scheint hier eine besondere Bedeutung zuzukommen. Es war ein Signalereignis, von Beobachtern auch Europas "9/11-Moment" genannt. Vergleichbar dem Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Center, so das Argument, habe der Zug der Flüchtlinge durch Mitteleuropa und ihre Aufnahme in Deutschland erst die Verunsicherungen in den Gesellschaften bewirkt, die Spaltung Europas vertieft und die Populismen befeuert.

Nun sind der Brexit und der Sieg Trumps in den USA nicht direkt mit den Ereignissen vom September 2015 zu erklären; auch hatten rechtspopulistische Parteien bereits zuvor erhebliche Erfolge zu verzeichnen: in den Niederlanden, in Frankreich, in Skandinavien, in Österreich. Und auch in Deutschland begann der Aufstieg der "Alternative für Deutschland" (AfD) viel früher, nämlich mit der Eurokrise. Schließlich war auch Pegida in Sachsen ein Jahr zuvor entstanden.

Aber ganz ohne Frage wirkte der Herbst 2015 wie ein Katalysator; er machte Polarisierungen in den europäischen Gesellschaften und zwischen den europäischen Staaten möglich, weil politische Gruppen glaubten, nunmehr das "Abendland" gegen seine vermeintliche "Islamisierung" verteidigen zu müssen. Dem Identitätspopulismus gelang es, verunsicherte, sich nicht gehört und repräsentiert fühlende und ökonomisch abgehängte Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. Über die "Kulturalisierung" des Konflikts vertieften sich Gräben in den Gesellschaften und gelang es politischen Akteuren, eine breite Unterstützung – zum Teil quer durch alle Schichten – zu mobilisieren.

Oktober 2015: Flüchtlinge an der österreichisch-deutschen Grenze nahe Wegscheid.
Foto: APA/AFP/CHRISTOF STACHE

Soziale, ökonomische und kulturelle Verwerfungen

Vor allem versprechen Populisten einfache Antworten zu geben. Ist erst einmal die Bedrohung durch die muslimische Invasion gestoppt, kann die eigene kulturelle Identität erhalten und gepflegt werden. Damit scheinen sich auch alle anderen Probleme zu erledigen, die zuvor schon vorhanden, wenngleich nicht sichtbar gewesen sind, jetzt aber bei der Suche nach den Gründen des Aufstiegs von Rechtspopulisten in den Fokus geraten. In der Migrationsfrage, die lange Zeit die öffentliche Agenda beherrschte, bündeln sich wie in einem Brennglas soziale, ökonomische und kulturelle Verwerfungen gegenwärtiger Gesellschaften, die für die Demokratien enorme Herausforderungen darstellen.

Fünf Krisen gleichzeitig

Da ist erstens die Repräsentationskrise. Das politische Beteiligungsverhalten befindet sich schon lange in einer Schieflage. Menschen mit formal niedriger Bildung und geringem Einkommen partizipieren in viel geringerem Umfang an der Politik; die Zahl der Nichtwähler nimmt zu. Die Politik verlor an Repräsentativität, Parlamente an Vertrauen, etablierte Parteien wurden – nicht zuletzt von rechtspopulistischen Politikern – als "Kartellparteien" wahrgenommen.

Zugleich hat sich zweitens die politische Kommunikation durch die sozialen Medien grundsätzlich verändert. Stimmungen und Emotionen schlagen unmittelbar auf die Politik durch, die Demokratie muss auf eine Empörungswelle nach der anderen reagieren. Der Diskurs leidet unter Verrohung, durch die Algorithmisierung wird er, beispielsweise durch sogenannte Bots, manipulierbar. Das ist als Kommunikationskrise zu bezeichnen.

Zum Dritten ist eine sozioökonomische Krise zu beobachten: So hat die Globalisierung zwar zu einer rasanten Entwicklung von Volkswirtschaften der sogenannten Schwellenländer beigetragen, in den Gesellschaften des Westens sind aber erhebliche Asymmetrien zwischen Stadt und Land, Gewinnern und Verlierern entstanden. Die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen stellt ein riesiges Problem der Verunsicherung, auch des relativen Abstiegs von Bevölkerungsgruppen dar. Der globalisierte Finanzkapitalismus erzeugt kaum zu rechtfertigende Vermögensdisparitäten. In den Ländern Mittel- und Osteuropas ist es zu einer dramatischen Abwanderungsbewegung von Arbeitskräften gekommen.

Dazu gesellt sich – viertens – die Krise kultureller Identität, der Konflikt zwischen Globalisten, die aufgrund ihrer kulturellen und ökonomischen Expertisen überall zurechtkommen, und jenen, die regional stark verankert sind oder bleiben müssen. Eine kosmopolitische Klasse, meinungsstark, flexibel, gebildet, trifft auf diejenigen, die auf Anerkennung und Förderung ihrer partikularen Heimat(en) bestehen.

Und schließlich sind fünftens in der Migrationsfrage Spannungen im EU-Europa zutage getreten, die auf jene unterschiedlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zurückzuführen sind, in denen sich in Mittel- und Osteuropa nach den Revolutionen von 1989/90 eine beschleunigte Transformation mit erheblichen sozialen, kulturellen und politischen Kosten vollzogen hat. Es ist die Gleichzeitigkeit dieser Krisen, die die Demokratien so massiv unter Druck setzt. (Hans Vorländer, 22.8.2018)