Die österreichische Außenministerin will reden. Nicht nur über die umstrittene Anwesenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei ihrer Trauung, sondern auch über europäische und globale Politik. Zwei Stunden nahm sich Karin Kneissl am Rande des Forum Alpbach Zeit, um vor dem EU-Außenministertreffen in Wien ihre Sicht zu erklären. Erstmals räumt sie ein, dass sie das Problem erkenne, wenn eine Außenministerin einen protokollarisch weit über ihr stehenden Präsidenten einlädt, ohne den dabei anwesenden Kanzler und den Bundespräsidenten vorab informiert zu haben. Die Entscheidung habe sie spontan bei einem Empfang getroffen, erklärt Kneissl. Sie habe nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich komme.

STANDARD: Sie sind jetzt seit acht Monaten im Amt und haben mehrfach in Interviews kritisch angemerkt, dass es den EU-Außenministerräten etwas an Substanz mangle. Wo sind die Defizite?

Kneissl: Im Rat ist vieles sehr ritualisiert. Wir haben mehr Monologe als Dialoge. Ich würde mir mehr Interagieren wünschen, so wie ich das in Uno-Institutionen kennengelernt habe oder bei Konferenzsimulationen. Es kommen sehr viele zu Wort, aber es gibt dann nicht die Replik, die zu einer Debatte führt.

STANDARD: Ihre Kritik war insofern überraschend, als es eine echte gemeinsame EU-Außenpolitik noch gar nicht so lange gibt – erst seit dem EU-Vertrag von Lissabon 2009 mit einer eigenen EU-Außenbeauftragten. In essenziellen Fragen gibt es oft Einigkeit, etwa bei den Sanktionen gegen Russland. Das ist doch Substanz, nicht?

Kneissl: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat mir in den ersten Räten in Brüssel mal gesagt: "Es ist so gut, Sie an Bord zu haben, man spürt Ihr großes Interesse an Außenpolitik." Das stimmt auch, in gewisser Weise lebe ich die Außenpolitik. Wir haben eine perfekte Vorbereitung auf Beamtenebene, wo wahrscheinlich auch viel debattiert wird. Da wird viel vorweggenommen, was natürlich die Arbeit auf Ministerebene erleichtert. Man kann dann vieles absegnen, aber ohne eine richtige politische Debatte, in der man aufeinander eingehen kann.

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Außenministerin Karin Kneissl im April mit ihren Amtskollegen aus Deutschland (Heiko Maas), Frankreich (Jean-Yves Le Drian) und Großbritannien (damals noch Boris Johnson) beim EU-Außenministerrat in Luxemburg. Dort gebe es "mehr Monologe als Dialoge", kritisiert Kneissl.
Foto: AP Photo/Virginia Mayo

STANDARD: Aber gerade am Beispiel der Russland-Sanktionen sieht man, dass gemeinsame EU-Außenpolitik funktioniert: Es gibt viel Debatten dazu, aber sie halten politisch. Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass die Front gegenüber Moskau bricht. Nur ist es inzwischen so, dass die Regierungschefs die wichtigsten Themen an sich ziehen, von Migration über Eurokrise bis Russland. Wie sehen Sie das?

Kneissl: So ist es. Das habe ich von Anfang an übrigens auch versucht zu erklären, als manche sagten, man nehme mir als Außenministerin die EU-Agenden weg. Mit dem Lissabon-Vertrag haben wir genau diese Entwicklung. Fast alle Premierminister haben inzwischen einen Staatssekretär oder Minister für EU-Angelegenheiten. Ich kannte noch die Arbeitsaufteilung zur EU-Agenda zwischen Regierungschef und Außenminister von früher, als man gemeinsam vorging. Es ist nicht österreichspezifisch, dass die EU-Angelegenheiten zum Regierungschef gewechselt sind.

STANDARD: Ist das frustrierend für Sie, wenn die Außenminister den Rest machen dürfen, das, was übrig bleibt?

Kneissl: Ich habe mit dem "Rest" ist immer noch genug zu tun. Da gehört der Iran ebenso dazu wie die Frage, wie wir mit dem Syrien-Krieg weiter umgehen, der zu Ende läuft. Ich glaube zwar nicht, dass wir jetzt bald den großen Friedensanfang in Syrien haben werden. Aber wir werden uns mit der Rückkehr der Flüchtlinge aus den Nachbarländern Jordanien und Libanon auseinandersetzen müssen.

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HOCHZEITSEINLADUNG FÜR PUTIN

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STANDARD: Dazu gehört auch die Russland-Politik, und da müssen wir jetzt über Präsident Wladimir Putin und Ihre Hochzeit reden. Sie haben seit Amtsantritt besonders betont, dass Sie eine unabhängige Ministerin sein und den Job als Expertin angehen wollen, die über dem Parteipolitischen steht. Sie wollten Vorkommnisse in der FPÖ nicht kommentieren. Dieses Bild ist nun völlig gekippt seit der Einladung Putins zu Ihrer Hochzeit, bei der die halbe FPÖ-Spitze mitgefeiert hat. Warum haben Sie das gemacht?

Kneissl: Ich habe Putin am 5. Juni eingeladen, nachdem wir den ganzen Tag miteinander verbracht hatten und ich ihn auch im Vorfeld zu längeren Gesprächen getroffen hatte, bei denen er sich interessiert daran zeigte, was ich über den Nahen Osten denke.

STANDARD: Das war Anfang Juni beim Staatsbesuch in Wien, bei dem Putin Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache traf. Wie kam das?

Kneissl: Ja, wir hatten fast den ganzen Tag miteinander verbracht. Zwischendurch war ich kurz im Büro und habe dort die Einladungen für meine Hochzeit vorgefunden. Die habe ich mitgenommen zu einer gemeinsamen Veranstaltung am Abend, bei der unsere Partner mitkommen konnten, also auch mein Verlobter Wolfgang. Dort habe ich eine Einladung dem Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler und einigen Regierungskollegen gegeben.

STANDARD: Und warum Putin?

Kneissl: Ich habe mir ganz spontan gedacht, ich teile meine Freude und stelle Putin meinen Verlobten vor. Das habe ich gemacht mit den Worten "Darf ich vorstellen, Wolfgang Meilinger, wir sind beide über 50 und heiraten beide das erste Mal." Und er schaut mich an und den Wolfgang an und sagt: "Interessante Frau. Sie sind ein mutiger Mann." Ich hatte die Billets noch in der Hand und habe dann zu Putin gesagt, das ist unsere Hochzeitseinladung. Dann bekam ich innerhalb der Einladungsfrist von vier, fünf Wochen von der russischen Botschaft die Mitteilung "Der Präsident kommt". Das war für uns alle eine Riesenüberraschung.

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Dass Wladimir Putin tatsächlich zur Hochzeit kam, beschreibt Karin Kneissl als "eine Riesenüberraschung".
Foto: Alexei Druzhinin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP

STANDARD: Nach meinen Recherchen gab es diese Einladung vor den Augen von Van der Bellen und Kurz, die einigermaßen überrascht waren. Wie kommt man als Außenministerin auf die Idee, den russischen Präsidenten in Anwesenheit von Bundespräsident und Bundeskanzler zu einer Hochzeit einzuladen? Rein protokollarisch stehen Sie zwei Stufen unter dem russischen Staatspräsidenten.

Kneissl: Absolut, aber ich hatte eben mit ihm schon Gespräche.

STANDARD: Dennoch ist es eine Düpierung des eigenen Regierungschefs und des Bundespräsidenten, wenn Sie das mit beiden davor nicht absprechen. Sehen Sie dieses Problem nicht?

Kneissl: Es war wirklich aus der spontanen Situation heraus. Ich bin nicht vorher zum Bundespräsidenten gegangen und habe gesagt, ich gebe dem russischen Präsidenten eine Hochzeitseinladung. Protokollarisch gesehen haben Sie da völlig recht. Aber ich habe mit Putin im Vorfeld Gespräche geführt, über die ich die anderen auch immer informiert habe.

STANDARD: Aber stellen Sie sich vor, Ihr französischer Kollege Jean-Yves Le Drian würde heiraten und den russischen Präsidenten, gegen dessen Land die EU Sanktionen verhängt hat, zu seiner Hochzeit einladen, ohne dass er das vorher mit seinem Staatspräsidenten Emmanuel Macron besprochen hat oder ihn fragt, was er davon hält, ob es politisch geschickt ist, ob er einverstanden ist. Das ist das Erstaunliche, dass Sie das nicht als Problem sehen.

Kneissl: Ich sehe es schon. Es war aus einer spontanen Reaktion heraus. Wir standen da alle zusammen, ich habe zu Putin gesagt: "Das ist unsere Hochzeitseinladung." Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er sie annimmt. So wie viele andere sagten, sie hätten keine Zeit oder seien auf Urlaub.

STANDARD: Sie haben selber gar nicht damit gerechnet, dass Putin kommt?

Kneissl: Nein, sicherlich nicht.

STANDARD: Das ist Ihnen quasi passiert?

Kneissl: Es wurde von manchen kommentiert, das sei strategisch kalkuliert gewesen, eiskalt. Nein, aber ich habe das nicht kalkuliert, sicher nicht. Wenn ich als Außenministerin jemanden einlade, der nicht in meiner symmetrischen Lage ist ...

STANDARD: ... rangmäßig, protokollarisch auf einer Ebene ...

Kneissl: ... dann bespreche ich das normalerweise natürlich. Sie haben völlig recht mit Ihrem Einwurf. Ich habe in der Regel nur mit den Außenministern zu tun. In dem Fall war das anders.

Karin Kneissl hat die Einladung Putins "nicht kalkuliert", sagt sie im STANDARD-Interview. Sie habe "aus der spontanen Situation heraus" agiert.
Foto: laurent ziegler

STANDARD: Die Sache sorgt jedenfalls seit Tagen für Aufregung und Kritik, insbesondere das Foto vom Knicks vor Putin nach dem gemeinsam getanzten Walzer. Nun hat sogar der frühere Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon bei der Eröffnungsrede in Alpbach dieses Foto erwähnt vor hunderten Zuhörern: Es sei in Korea in allen Zeitungen gewesen. Sind Sie nach wie vor davon überzeugt, dass das kein Problem ist, weil es eine private Einladung war?

Kneissl: Ich habe nachher mit ihm gesprochen. Er hat gesagt: "Der Bericht ist sehr nett gewesen, meine Frau hat ihn mir gezeigt."

STANDARD: Das mag ja nett gewesen sein. Das Publikum in Alpbach hat geklatscht und gelacht, man hatte den Eindruck, es war eine politische Spitze Ban Ki-moons. Milliarden von Menschen haben keine Ahnung, dass es sich dabei um Wiener Tanzgepflogenheiten handelt, die sehen nur die Verneigung vor Putin. Bedauern Sie dieses Bild?

Kneissl: Wahrscheinlich würden 5,9 Milliarden Leute sagen, das ist ein Problem der Ersten Welt, wir haben ganz andere Probleme.

STANDARD: Der Russland-Experte Gerhard Mangott verwies darauf, dass der Sender Russia Today, der das Walzervideo aufgenommen hat, ein Propagandasender ist, der die Bilder für das russische Staatsfernsehen liefern sollte. Sie seien für Putin nur ein Türöffner gewesen. Hat Putin Sie überrumpelt oder als EU-Ratspräsidentin verwendet, weil er in die EU einen Keil treiben will?

Kneissl: Er hat mich in keiner Weise verwendet. Ich habe kurz vor der Hochzeit sowohl mit dem polnischen als auch mit dem britischen Außenminister darüber geredet und sie informiert. Ich wollte, dass sie davon nicht aus den Medien erfahren. Und ich habe auch gesagt, dass ich Putin "by sheer coincidence", durch reinen Zufall, eingeladen hatte. Beide haben mir auf eine sehr nette Weise gratuliert.

STANDARD: Das sind zwei nicht sehr proeuropäische Ministerkollegen.

Kneissl: Die aber auch alles andere als prorussisch sind.

STANDARD: Sie waren viele Jahre Journalistin, kennen das Geschäft. Natürlich wird kein Außenminister Ihnen ins Gesicht sagen, dass das unpassend war. Der litauische Außenminister meinte, am einfachsten wäre es, so zu tun, als sei nichts geschehen.

Kneissl: Dass es zu diesen Bildern in Russia Today gekommen ist, das war von unserer Seite in keiner Weise gewünscht oder beabsichtigt. Wir hatten mit dem russischen Protokoll ausgemacht, dass es nur ein paar Fotos geben wird, die rauskommen. Es gab ja auch keine Akkreditierung. Das war unser Wunsch. Ich habe gesagt, dass ich diese Hochzeit in keiner Weise medial verwerte.

Wladimir Putin habe sie "in keiner Weise verwendet", antwortet Karin Kneissl auf Kritik an dem vom russischen Staatsfernsehen aufgenommenen Walzervideo. Sie wollte die Hochzeit "in keiner Weise medial" verwerten.
Foto: Screenshot/Youtube

STANDARD: Deshalb habe ich vorher gefragt, ob Putin Sie verwendet hat. Auf Wienerisch würde man sagen, er hat Sie gelegt. Er hat Bilder produziert, die für ihn, der im Westen isoliert ist, zu Hause in Russland günstig sind. Er tanzt mit der EU-Ratspräsidentin Walzer.

Kneissl: Ich habe die Hochzeit nicht bewusst in die Zeit der EU-Ratspräsidentschaft gelegt. Ich habe zufälligerweise von meinem Mann im April einen Heiratsantrag gekriegt. Soweit ich gesehen habe, ging es bei den TV-Bildern um die österreichische Außenministerin, nicht die EU-Ratspräsidentin.

STANDARD: Jenseits des Symbolischen gibt es aber doch auch klare politische Implikationen. Der Bundeskanzler hat in Europa deshalb herumtelefoniert, mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Ratspräsident Donald Tusk, um mögliche Irritationen zu zerstreuen. Was wollen Sie nun zur Schadensbegrenzung tun?

Kneissl: Wenn mich jemand fragen sollte beim informellen EU-Außenministerrat am Donnerstag in Wien, dann werde ich das tun. Wenn mich jemand aktiv fragt. Aber ich werde sicher nicht dieses Thema von mir aus auf die Agenda setzen.

STANDARD: Ein anderer Aspekt der Sache ist, dass Sie sich bisher als Unabhängige eher auf Distanz zur Parteipolitik, zur FPÖ, hielten. Kanzler Kurz wirbt seit Monaten in Europa dafür, dass seine Regierung zweifelsfrei proeuropäisch und nicht EU-skeptisch ist. Müssen Sie jetzt nicht befürchten, ganz klar diesem politischen Lager der Rechtspopulisten zugerechnet zu werden?

Kneissl: Nein, ich bin weiterhin die Ministerin, die in keinem Parteigremium drinnen ist.

STANDARD: Die FPÖ, die die Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland fordert, feiert Sie jedenfalls. Strache sagte in einem "Presse"-Interview, Sie könnten nun gemeinsam mit Kurz, der gute Beziehungen zum ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko habe, Russland und die Ukraine zusammenbringen. Da wird eine Außenpolitik auf ganz persönlicher Ebene simuliert, als Privatsache.

Kneissl: Das sind Antworten auf Fragen von Journalisten. Um das auf einer anderen Ebene zu betrachten. Ich hatte auch den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zu mir nach Hause eingeladen.

STANDARD: Strache sagte auf die Frage, wen er zu seiner Hochzeit einladen würde, er würde Italiens Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini einladen und Ungarns Premier Viktor Orbán. Damit nimmt er doch eine klare politische Positionierung vor: bei den rechtspopulistischen EU-Skeptikern. Sie hielten sich bisher fern. Was ist daran privat?

Kneissl: Für gewisse Leute war ich bisher schon die FPÖ-Außenministerin, das ist in einigen Medien stark etabliert. Einige, die mich so sehen wollten, haben das getan. Ich habe in den nächsten Wochen eine Reihe von Auslandsreisen. Wäre es so, dass ich präjudiziert wäre, müsste ich ja reihenweise Absagen bekommen. Aber das ist nicht so.

"Ich bin weiterhin die Ministerin, die in keinem Parteigremium drinnen ist", sagt Karin Kneissl. Die FPÖ feiert sie nach dem Besuch Putins bei ihrer Hochzeit allerdings.
Foto: LAURENT ZIEGLER

STANDARD: Wenn Sie diese persönliche Nähe zu Putin zum Ausdruck bringen, wie wollen Sie dann glaubhaft beim Vertreten der kritischen Haltung der EU gegenüber Moskau sein? Etwa dass es Sanktionen wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim gibt? Und auch noch unbefangener Brückenbauer?

Kneissl: Da habe ich ja kein Problem damit. Das kann ich weiterhin vertreten. Die EU-Sanktionen gegen Russland sind ein Regierungsbeschluss. Wir gehen da im Tandem mit den 27 EU-Partnern. Klarerweise stehe ich zu unserer völkerrechtlichen Sichtweise auf die Krim. Das ändert ja nichts daran, nur weil ich mit Putin Walzer getanzt habe. Ich sehe es so, dass ich zu Putin eine Vertrauensbasis hergestellt habe und er zu mir, eine Reziprozität, aufgrund derer es möglich wird, gewisse Dinge zu besprechen.

STANDARD: Wie schlägt sich das nieder? Was können Sie bei Putin erreichen?

Kneissl: Wir haben Situationen, in denen wir ein Patt haben. Das akzeptieren wir. Wir müssen aber in anderen Bereichen weiterkommen.

STANDARD: Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie Putin wieder einladen?

Kneissl: Ich bin ein pragmatisch denkender Mensch. Mit einer Woche Abstand sage ich mir, ich bin froh, dass alles gutgegangen ist. Es war ein fröhliches, friedliches Fest. Das war für uns alle, die dort waren, die Hauptsache. Putin war 75 Minuten dabei, wir hatten den Eindruck, dass er sich amüsiert. Er hat anders gewirkt als in einem Face-to-Face-Gespräch.

STANDARD: Kanzler Kurz scheint nicht sehr glücklich zu sein über das, was da gelaufen ist mit Putin. Haben Sie mit ihm darüber geredet?

Kneissl: Ich habe ihn bei der Hochzeit gesehen und bin dann auf Flitterwochen gefahren.

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DROHENDER ZERFALL DER EU

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STANDARD: Der Europawahlkampf steht bevor. Die FPÖ will eine Wahlplattform mit rechtspopulistischen Parteien bilden. Welche Rolle werden Sie spielen?

Kneissl: Ich habe im ersten Halbjahr keinen Wahlkampf gemacht. Viele meiner Regierungskollegen haben das gemacht, in Kärnten, in Salzburg und so weiter. Ich werde auch in Zukunft in keinem Wahlkampf tätig sein.

STANDARD: Macht Ihnen die Entwicklung keine Sorgen, das Erstarken des Rechtspopulismus auf der europäischen Ebene? Wir stehen vor dem Brexit, vor inneren Spaltungen der Union.

Kneissl: Wir sind in einer prekären Situation, und ich bin davon nicht überrascht. Ich habe 2013 ein Buch veröffentlicht unter dem Titel "Die zersplitterte Welt und was von der Globalisierung bleibt". Darin habe ich Thesen aufgestellt, dass das zeitgeistige Pendel in Richtung Kleinräumigkeit und Überschaubarkeit geht. Ich glaube, man muss daran denken. Ein Brexit ist sehr wohl möglich. Ein Zerfall der Union ist aus verschiedenen Gründen möglich. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, können nicht sagen, es kann nicht sein, was nicht sein darf.

STANDARD: Aber sind Sie für den Zerfall der Europäischen Union?

Kneissl: Nein, natürlich nicht. Ich habe an all diesen Dingen lange herumgekiefelt.

STANDARD: Aber man müsste sich dann doch die Frage stellen, was man dagegen tun muss, um den Zerfall zu verhindern. Auch die FPÖ will weniger EU, zurück zum Europa der Nationalstaaten.

Kneissl: Ich sehe den Europawahlkampf nicht so, dass eine Partei sagt, die Union gehöre zerschlagen.

STANDARD: Also, die europäischen Partner der FPÖ, die Lega von Matteo Salvini oder Marine Le Pen in Frankreich, sagen das recht offen, dass sie diese EU zerschlagen wollen.

Kneissl: Ich bin kein großer Beobachter des Rassemblement National von Le Pen. Aber eines hat man dort begriffen, dass die Franzosen nicht rauswollen aus dem Euro und nicht raus aus der EU. Das war das große Wahlkampfthema bei den Präsidentenwahlen, einer der Gründe, warum sie verloren haben. Salvini verfolge ich nicht so genau. Ich habe glücklicherweise viele andere interessante Themen.

STANDARD: Werden Sie in irgendeiner Weise für das gemeinsame Europa werben?

Kneissl: In dem Sinn, dass ich zwischen wichtigen und unwichtigen Themen für Europa unterscheide. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wo man als Unternehmer noch wirtschaften kann. Selbst in unserer diplomatischen Arbeit sehen wir das, wir müssen, wenn wir etwa Seminare machen, zuerst Sanktionslisten durchgehen. Wir haben mittlerweile sehr viele Personen, die auf Sanktionslisten sind, nicht nur bei Russland.

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AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK DER EU

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STANDARD: Auch die EU-Staaten stehen auf einer Sanktionsliste der USA. Befürchten Sie, dass das weiter eskalieren könnte, wenn der US-Präsident bei den Kongresswahlen im Wahlkampf steht?

Kneissl: Ich hatte im Juni in Genf Gespräche mit Vertretern der Welthandelsorganisation, die mir sagten, dass sie mit Strafzöllen von 15 bis 20 Prozent gegen die Automobilindustrie rechnen.

STANDARD: Das hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ende Juli in Washington abgewendet, vorläufig zumindest.

Kneissl: Wie Sie richtig sagen, es ist dann US-Wahlkampf, da kommen Wünsche auf, vielleicht in Bundesstaaten, wo die Automobilindustrie wichtig ist. Also das ist alles nicht vom Tisch. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass diese Zölle kommen. Juncker hat eine mündliche Zusage. Aber wir wissen, dass da vieles noch in Schwebe ist. Es gibt große Gefahren für arbeitsmarktpolitische Umbrüche. Wir haben in Europa acht Millionen Arbeitsplätze in der Automobilindustrie.

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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat bei seinem Besuch in Washington Ende Juli US-Strafzölle gegen die Automobilindustrie vorerst abgewendet.
Foto: REUTERS/Joshua Roberts

STANDARD: Bei US-Sanktionen würden in Österreich sofort 3.000 Arbeitsplätze gefährdet sein, vor allem im Autocluster Graz und in Oberösterreich in der Zulieferindustrie.

Kneissl: Wir haben Umbrüche in der Transportwirtschaft, die gewaltig sind, die kommen vor allem aus dem asiatischen Raum. Ich habe in meinem Büchlein "Wachablöse zu China" den Gedanken gesponnen, dass das Auto der Zukunft nicht aus den USA oder Europa kommt, es wird designt in China und zusammengebaut in Afrika. Das sind die großen Herausforderungen. Wir sollten uns weniger mit dem Antagonismus zwischen Washington, Moskau und Europa beschäftigen, damit sind wir aufgewachsen. Aber meines Erachtens ist die wahre Herausforderung heute China. Wir sollten China viel kritischer betrachten als bisher.

STANDARD: Was bedeutet das für die europäische Sicherheitspolitik? Wird das auch ein Thema sein beim informellen EU-Außenministerrat in Wien, dem Gymnich?

Kneissl: Die Agenda ist streng vorgegeben, wir haben den Nahen und Mittleren Osten, die Ukraine auf dem Programm, wie es dort weitergeht, auch die transatlantischen Beziehungen. Es geht also auch um Syrien und die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge, wo ich die Zusammenarbeit mit Putin suche. Das ist mir ein Anliegen. Ich werde versuchen, auch die Sicherheitsfrage anzusprechen, wenn es um transatlantische Themen geht.

STANDARD: Was will Österreich dabei?

Kneissl: Man muss klar sehen, es gibt die Bruchlinie zwischen den Nato-Staaten und jenen in der EU, die nicht in der Nato sind. Ist man in der Nato, ist man in einem ganz anderen Informationskanal drinnen. Beim letzten Treffen in Sofia habe ich festgestellt, dass die Kollegen aus Montenegro und Albanien auf Augenhöhe mit den Briten und Franzosen sind, weil sie in der Nato sind. Bei bestimmten Themen traue ich mich nicht mitzureden, weil ich die Informationen nicht habe, über die Nato-Mitglieder verfügen.

STANDARD: Sie wollen Brücken zu Putin bauen. Gibt es eine geheime Botschaft des russischen Präsidenten in Sachen Ukraine an die EU?

Kneissl: Nein, wir haben uns bei der Hochzeit wirklich nur ganz kurz über Syrien unterhalten. Ich weiß nicht, ob der Bundeskanzler mit ihm über die Ukraine gesprochen hat. Was Russland als Idee eingebracht hat, schon vor einem Jahr, ist die Errichtung einer Schutzzone mit UN-Blauhelmen entlang der Demarkationslinie in der Ostukraine. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin hat mir gesagt, sollte es zu so einer Mission kommen, dann wollen wir neutrale Staaten, die die Soldaten stellen, nicht Natostaaten. Österreich würde ein Kontingent bereitstellen. Man muss aber auch klarstellen: Wir hatten bisher keine Vermittlerrolle.

STANDARD: Deshalb gibt es ja die gemeinsame EU-Außenpolitik. Wenn die EU Österreich zum Vermitteln brauchen würde, würde Mogherini Sie damit beauftragen. Rechnen Sie damit?

Kneissl: Wir brauchen eine Verteilung der Lasten. Aber es ist völlig klar, die Initiative dazu müsste vonseiten des Europäischen Auswärtigen Dienstes kommen. Wir wollen den Fokus des bulgarischen EU-Vorsitzes auf Südosteuropa fortsetzen. Das Vakuum, das wir in Südosteuropa haben, das dürfen wir nicht anderen Mächten überlassen.

STANDARD: Wird in Bezug auf den Westbalkan in der österreichischen EU-Präsidentschaft ein greifbarer Erfolg möglich sein, bezüglich Mazedonien nach Beilegung des Namensstreits?

Kneissl: Was die Außenminister von Griechenland und Mazedonien, Kotzias und Dimitrov, gemacht haben, war äußerst mutig. Bei so etwas wie diesem Streit riskiert man Kopf und Kragen, ein politisches Minenfeld. Es gab bereits im Juni den festen Wunsch, dass der Start der Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien in die Schlusserklärungen kommt. Wir werden nun wieder alles daransetzen. Es geht auch darum, dass wir als EU Glaubwürdigkeit bewahren. Aber es gibt Widerstand aus wichtigen Hauptstädten.

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BREXIT

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STANDARD: Stichwort Brexit. Glauben Sie, dass die Verhandlungen scheitern können in den nächsten Wochen und es einen harten EU-Austritt ohne Abkommen gibt, oder ist das alles Bluff, was man im Moment aus London hört?

Kneissl: Das ist die ganz große Frage. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich hatte dazu ein ausführliches Gespräch mit dem britischen Kollegen Jeremy Hunt. Er hat von der "darkest hour" gesprochen, von den 1940er-Jahren, dass Großbritannien allein stünde. Also so schlimm ist es nicht. Aber die Briten haben immer oszilliert zwischen Bindung an das gemeinsame Europa und dem Rausgehen.

STANDARD: Man hört, dass es im November einen Sonder-EU-Gipfel zum Brexit geben könnte, stimmt das?

Kneissl: Ich habe das nicht auf der Agenda, es sind andere, die dieses höchste Gremium einberufen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Schwanken in Großbritannien einfach zeigt, dass der Entscheidungsprozess noch im Gange ist. Wir sollten das mit weniger Pathos und Beschwören früherer Zeit machen. Don't panic.

STANDARD: Ist es denkbar, dass der Brexit im März 2019 einfach verschoben wird, weil man keine Einigung findet?

Kneissl: Keiner will diese Unsicherheit, die da ist, auf lange Zeit verlängern. Gerade für die Wirtschaft wären klare Verhältnisse besser, einfach weil die Unsicherheit beendet ist, wenn die Unternehmen die Elemente kennen, mit denen sie jetzt umgehen müssen. Im Mai sind die Europawahlen. Da spielt sich dann auf EU-Ebene länger nichts ab, wir haben dann geschäftsführende Kommissare. Die 28 Regierungschefs könnten zwar zu achtundzwanzigst einen einstimmigen Beschluss fassen, dass der Brexit aufgeschoben wird, aber ich möchte dem keine große Wahrscheinlichkeit geben. Ganz ausschließen würde ich es aber auch nicht.

Eine Verschiebung des Brexits hält Karin Kneissl für unwahrscheinlich, "ganz ausschließen" will sie das Szenario aber nicht.
Foto: LAURENT ZIEGLER

STANDARD: Sie beschäftigen sich seit langem mit Außenpolitik, zwanzig Jahre als Journalistin, jetzt sind Sie Politikerin. Was davon ist besser?

Kneissl: Ich habe mir lange überlegt, ob ich das Amt annehmen soll. Selbst als ich schon einige Wochen im Amt war, habe ich es sehr genossen, an Texten zu feilen. Deshalb habe ich jetzt begonnen, Gastkommentare zu schreiben, weil ich es liebe, Gedanken zu formulieren, und wie es ist, wenn man am Schluss seinen Text vor sich liegen hat.

STANDARD: Sie schreiben das auch heute als Ministerin alles selber?

Kneissl: Ich schreib das alles selbst, deswegen mache ich es ja, aus dem persönlichen Wunsch heraus, mit dem Wort zu arbeiten. Ich habe zwei Buchmanuskripte liegen. Ich schreibe auch meine Reden selbst, bespreche mich mit ein paar Kollegen, welche Gedanken ich reinbringen will, dann kommt das Feintuning. Das hat mir immer gefallen, dass man einen Text, etwas Konkretes in der Hand hat.

STANDARD: Das klingt fast danach, als gäbe es ein Leben nach dem Ministeramt und als würden Sie daran auch schon denken.

Kneissl: Ich bin jetzt seit acht Monaten Ministerin. Das ist für mich eine interessante Einladung gewesen. Es mag etwas altmodisch und pathetisch klingen, aber ich kann nicht als Journalistin sagen, die Regierung müsste das und jenes machen, und wenn ich dann die Möglichkeit habe, selber mitzugestalten, das dann nicht annehmen. Ich habe das Glück, dass ich mich in einer Materie bewege, über die ich schon viel nachgedacht habe. Ich mache meine aktuelle Arbeit als Amt, als Dienst, der mir aufgetragen wurde, voller Herzblut, solange es geht und man mich will, bei allen Unwägbarkeiten. Aber ich wüsste mir auch in einer Folgephase wieder etwas Neues anzufangen. (Thomas Mayer, 26.8.2018)