Was Seefahrer schon lange berichteten, wurde erst vor einigen Jahren wissenschaftlich bestätigt: Wellen von mehr als 15 Metern Höhe sind keine Seltenheit.

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"Eine einzige riesige Wasserwand" sah Ronald Warwick, Kapitän des Kreuzfahrtschiffs Queen Elizabeth 2 im Februar 1995 auf sein Schiff zukommen. "Es sah aus, als steuerten wir auf die weißen Klippen von Dover zu", beschreibt er die Begegnung des Schiffs mit einer 29 Meter hohen Welle auf dem Nordatlantik. Wenige Wochen zuvor, am 1. Jänner 1995, registrierte eine automatische Wellenmessanlange der norwegischen Ölbohrplattform Draupner in der Nordsee eine fast 26 Meter hohe Welle.

Ozeanografen hatten die Existenz solcher "Monsterwellen" bis dahin für einen Mythos gehalten. Entsprechende Berichte von Seeleuten wurden als Übertreibung abgetan. Schiffsunglücke schrieb man menschlichem Versagen, technischen Problemen oder mangelhafter Wartung zu. Die Höhe von Wellen, so die damals vorherrschende Meinung, ist statistisch normalverteilt. Extrem hohe Wellen wären demnach ebenso extrem selten. Die maximale Wellenhöhe, mit der ein Schiff rechnen müsse, läge bei 15 Metern.

Als aber auf die unbestreitbaren Daten der Draupner-Station die ebenso glaubwürdige Beobachtung des Kapitäns der Queen Elizabeth 2 folgte, blieb den Wissenschaftern nichts anderes übrig, als die ganze Angelegenheit neu zu betrachten.

Messung aus dem All

Wellen, so stellte sich heraus, sind nicht so simpel, wie man angenommen hatte. Um sie korrekt zu verstehen, braucht es komplexe Modelle, die nur mit ebenso komplexen Computerprogrammen untersucht werden können. Bei ihrer Entstehung müssen nichtlineare Phänomene berücksichtigt werden (also das, was man landläufig "Chaostheorie" nennt). Eine einfache statistische Normalverteilung reicht nicht aus, um ihre Höhe abzuschätzen.

Neue Daten brachten neue Erkenntnisse: Automatische Messstationen wie jene der Draupner-Station zeigten, dass "Monsterwellen" durchaus nicht selten waren. Die Europäische Union startete im Jahr 2000 das Projekt "MaxWave": Das Auftreten, die Häufigkeit und die Entstehung von Riesenwellen sollten ausführlich erforscht werden, inklusive der Auswirkungen auf den Schiffsverkehr und den Bau von Schiffen. In diesem Umfang war das nur mit Beobachtungen aus dem Weltraum möglich. Die "European Remote Sensing"-Satelliten ERS-1 und ERS-2 wurden eingesetzt, um global die Meeresoberfläche und damit auch die Wellenhöhe per Radarstrahlen aus einer Erdumlaufbahn zu analysieren. Schon in den ersten drei Wochen fand man dabei mehr als zehn Wellen, die höher als 25 Meter waren.

Die Sache mit der Datenlage

Die Ergebnisse dieser und weiterer Studien zeigten klar: Riesenwellen treten deutlich häufiger auf, als man bis dahin dachte. Man findet sie überall auf der Welt in allen Meeren. Die 15 Meter an Wellenhöhe, für die Schiffe und Ölplattformen bis dahin ausgelegt waren, waren also deutlich zu gering angesetzt. Die Erforschung der Riesenwellen ist heute ein wichtiger und anerkannter Teil der Ozeanografie. Man hat erkannt, dass es ein Irrtum war, die "Monsterwellen" als Mythos abzutun, und hat den Fehler so gut korrigiert, wie es möglich war.

Darüber hinaus illustriert dieser Irrtum aber auch ein wichtiges Konzept und ein großes Problem der Naturwissenschaft: Welchen Beobachtungen und welchen Daten soll man vertrauen? Bevor man ein Phänomen naturwissenschaftlich erforschen kann, muss man zuerst einmal von seiner Existenz erfahren – oder diese zumindest vermuten. Riesenwellen wurden aber von keiner ozeanografischen Theorie vorhergesagt, ganz im Gegenteil. Es blieben also nur die Berichte von Seeleuten, die solche Wellen gesehen haben wollten – Berichte, die den theoretischen Vorhersagen widersprachen und für die es keine unabhängigen Belege durch Messinstrumente oder Ähnliches gab. Kurz gesagt: Es gab nur Anekdoten. Und "Anekdoten sind keine Daten", wie dieser relevante Aspekt der wissenschaftlichen Methode oft zusammengefasst wird.

Monsterwellen sind keine Globuli

Kann man es den Ozeanografen also vorwerfen, dass sie die Existenz von Riesenwellen so lange ignoriert haben? Auf den ersten Blick eigentlich kaum. Es gab einerseits lange Zeit nicht die technischen Möglichkeiten, um die Entstehung von Wellen in der nötigen Komplexität mit Computermodellen zu analysieren. Es gab andererseits aber auch keinen zwingenden Anlass dazu. Die (kaum) vorhandenen objektiven Daten lieferten keinen Hinweis auf ihre Existenz, und die subjektiven Anekdoten der Seeleute waren eben genau das: Anekdoten. Sobald durch die Messinstrumente der Draupner-Station objektive Daten aufgetaucht waren, wurde das Phänomen der Riesenwellen ernst genommen und erforscht.

Diese Geschichte zeigt aber auch, dass die Aussage "Anekdoten sind keine Daten" nicht zu streng betrachtet werden darf. Anekdoten sind durchaus auch Daten. Nur eben schlechte Daten bzw. Daten, deren Qualität nicht leicht eingeschätzt werden kann. Es wäre natürlich wissenschaftlich fahrlässig, sich nur auf Anekdoten zu verlassen. Oder sie gar über objektive Evidenz zu stellen. Aussagen wie "Globuli haben die Erkältung meiner Nachbarin geheilt" können und dürfen nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden wie die Gesamtheit der evidenzbasierten Forschung, die belegt, dass Homöopathie keine pharmakologische Wirkung hat. Der Erzählung eines Touristen, der beim abendlichen Spaziergang um Loch Ness ein Seeungeheuer gesehen haben will, darf nicht die gleiche Aussagekraft beigemessen werden wie objektiv belegten Erkenntnissen der Zoologie. Und so weiter: Simple Geschichten können kein sicheres Fundament für wissenschaftliche Theorien sein, egal wer sie wie überzeugend erzählt.

Anekdoten als Ideengeber

Aber daraus folgt nicht, dass man Anekdoten pauschal in jedem Fall verwerfen kann. Bei Fällen wie der Homöopathie ist die Sache klar: Die Anekdote kann nur dann richtig sein, wenn im Gegenzug die komplette Naturwissenschaft mit all ihrem im Laufe der Zeit durch unzählige objektive Beobachtungen und Experimente bestätigten Erkenntnissen falsch ist. Die Behauptung, dass es Wellen gibt, die größer sind, als man bisher angenommen hat, war dagegen zwar aus Sicht des damaligen Wissensstandes unerwartet, aber zumindest kein Widerspruch zu den bekannten Naturgesetzen. Wenn Anekdoten dieser Art gehäuft und konsistent immer wieder auftreten, dann kann es sich durchaus lohnen, einen genaueren Blick darauf zu werfen.

So ein zweiter Blick hätte die Riesenwellen vielleicht ein wenig früher vom Mythos zur Realität befreit. Das nicht erkannt zu haben war ein Irrtum. Ob man ihn der Wissenschaft vorwerfen sollte, ist Ansichtssache. Anekdotische Evidenz kann der Ausgangspunkt für große Entdeckungen sein – ebenso gut aber auch der erste Schritt auf einem langen Weg in eine wissenschaftliche Sackgasse. Denn zu erkennen, wann Anekdoten wertlos sind und wann sie vielleicht doch Daten sein könnten, braucht neben Erfahrung und Intuition immer auch ein wenig Glück. (Florian Freistetter, 28.8.2018)