In unserer neuen Serie erzählen Journalistinnen und Journalisten über ihre Recherchen und über Nachwirkungen ihrer Berichterstattung.

Alle Teile der Serie "Wie haben Sie's gemacht?" finden sie hier.

Zwanzig Jahre lang trug der Mann die belastende Geschichte aus seiner Kindheit mit sich herum. Oft überlegte er, sich an die Presse zu wenden – doch mangelndes Vertrauen in die Berichterstattung über den Islam hielt ihn immer zurück. Im Jänner 2017 nahm er schließlich seinen ganzen Mut zusammen und rief Melisa Erkurt an. "Er wollte mir alles erzählen, aber er wollte unbedingt anonym bleiben", sagt Erkurt. Die Biber-Journalistin versprach ihm absolute Anonymität, nannte den Mann in ihrem Artikel Berkan und verfremdete seine Geschichte so, dass er auch für sein nahes Umfeld unkenntlich blieb.

Dass Berkan zu ihrem Informanten wurde, verdankt Erkurt ihrer Geschichte "Generation Haram", die bei den Österreichischen Journalismustagen als Story des Jahres 2016 ausgezeichnet worden war. Die Ausgewogenheit und die Sensibilität dieses Artikels beeindruckten Berkan so sehr, dass er bereit war, Melisa Erkurt von seiner Kindheit und Jugend im Schülerwohnheim der Süleymancilar zu erzählen.

Gestohlene Kindheit

Süleymancilar (Türkisch für "Anhänger Suleymans") ist eine muslimische religiöse Bewegung, die auch in Österreich Schülerwohnheime betreibt. Berkan verbrachte jahrelang seine Ferien in einem dieser Heime in Niederösterreich und fühlt sich nach eigenen Worten "gehirngewaschen". Er wollte an die Öffentlichkeit gehen, damit "das anderen Kindern nicht passiert".

"Sein Vertrauen hat mich verpflichtet, also beschloss ich hinzufahren", erzählt Melisa Erkurt. Zunächst wollte die Reporterin wie üblich vorgehen: im Wohnheim, das jetzt ein islamisches Mädchenwohnheim ist, anrufen und den Leiter um einen Gesprächstermin bitten. "Hätte ich das gemacht, hätten sie mir ein paar Mädels präsentiert, die mir einstudierte Sätze aufgesagt hätten. Wenn ich also erfahren wollte, wie es dort wirklich zugeht, musste ich das verdeckt machen", erzählt sie.

Die verdeckte Recherche sei eine "eher verpönte Methode", erfuhr Erkurt gleich am Anfang. Viele Kollegen rieten ihr davon ab. Erkurt ließ sich jedoch nicht davon abbringen und bereitete sich gründlich auf die sogenannte Rollenrecherche vor: Sie legte sich eine Geschichte zurecht, sprach mit Anwälten. Die Vorbereitung hat sie als "sehr anstrengend" in Erinnerung. "In Österreich bringt dir niemand bei, wie Undercover-Recherche geht. Ich wusste, damit gewinne ich auch keinen Preis!", sagt sie schmunzelnd.

Das Wohnheim der Süleymancilar befindet sich in der kleinen niederösterreichischen Gemeinde Kematen. Der "Biber"-Fotograf machte einige Tage nach Erkurts Besuch seine Fotos von dem unauffälligen Gebäude.
Foto: Marko Mestrovic

Hierzulande ist die Rollenrecherche als spezielle Ausprägung der investigativen Recherche eher selten. Im Ehrenkodex des österreichischen Presserates ist festgehalten, dass zur Materialbeschaffung keine "unlauteren Methoden" angewendet werden dürfen. Darunter wird unter anderem auch "Irreführung" angeführt.

Verdeckte Recherche und ihre "zur Durchführung notwendigen angemessenen Methoden" seien allerdings in Ausnahmefällen zugelassen. "Wichtig ist vor allem, dass im Zuge der verdeckten Recherche Informationen beschafft werden, die sonst nicht an die Öffentlichkeit kämen", erklärt Alexander Warzilek, Presserat-Geschäftsführer. Im Fall von Melisa Erkurts Recherchen für die Reportage "Süleymans Kinder" sieht Warzilek kein Problem.

Es gibt aber auch Beispiele aus Österreich, die der Presserat verurteilt hat. Etwa 2011 im Fall einer "News"-Journalistin, die sich in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik eingeschlichen hatte, um dort die Lebensgefährtin eines mutmaßlichen Mörders zu interviewen. "Hier wurden keine Informationen beschafft, die für die Öffentlichkeit von Bedeutung wären", sagt Warzilek.

Daran, dass ihre Recherche wichtig und die Methode richtig sei, zweifelte Melisa Erkurt nicht: "Ich wusste, dass ich die Geschichte machen muss, weil nur ich sie machen kann. Ich kenne die Community eben genau", sagt Erkurt. Für den Besuch im Wohnheim suchte sie sich einen türkischsprachigen Begleiter. Mit ihm studierte sie ein Szenario ein: Sie erzählten, dass sie Geschwister seien und ihre jüngere Schwester im Wohnheim anmelden wollen. "Ich habe gewusst, dass der Leiter mit mir als Frau nicht sprechen wird", also musste ein Mann her.

Frausein als Vorteil

"Als Feministin war die Situation für mich wirklich schwer zu ertragen", sagt Erkurt. Im Heim durfte sie nicht mit ins Zimmer des Leiters, in das wurde nur ihr Recherchepartner hineingebeten. Bei der anschließenden Führung durchs Heim wurde sie vom Religionslehrer ignoriert: "Er sprach nur mit meinem Begleiter, ich war wie Luft für ihn." Doch die Situation brachte auch Vorteile für die Reporterin. Während ihr Begleiter im Zimmer des Hodschas war, konnte sie die Mädchen in den Räumen des Wohnheims beobachten und mit ihnen reden.

Vieles, was Erkurt im Wohnheim sah und hörte, bestätigte die Erzählungen ihres Informanten. Das Wohnheim war karg und lieblos eingerichtet: "Keine Bücher, keine Poster, keine PCs – nichts, was darauf hindeutet, dass hier Mädchen im Alter von sieben bis sechzehn Jahren leben. In einem der Lernzimmer sitzt ein junges Mädchen am Boden und studiert ein Religionsbuch – auch sie trägt schon Kopftuch", berichtete Erkurt später in ihrer Reportage.

Der Bericht aus dem Wohnheim wurde von einigen Medien aufgegriffen und zitiert. "Das hat mir zwar geschmeichelt, war aber nicht so wichtig wie Reaktionen von Betroffenen", sagt Erkurt. Nach Veröffentlichung der Reportage meldeten sich weitere ehemalige Schüler des Wohnheims. Sie erzählten, dass der Artikel ihnen helfe, mit der Vergangenheit abzuschließen.

Politische Reaktionen blieben aus. "Man wolle das Wohnheim beobachten", hörte Erkurt von Lokalpolitikern. (Olivera Stajić, 29.8.2018)