Aktuell absolvieren in Österreich 106.000 Menschen eine Lehre.

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Gibt es einen Mangel oder einen Überschuss an Lehrlingen? Selbst diese simple Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Das AMS zählt die ihm von Betrieben gemeldeten Lehrstellen zusammen, die sofort besetzt werden können. Vergleicht man diesen Wert mit der Zahl der Menschen, die einen Lehrplatz suchen, dann fehlen in Österreich aktuell 3.078 Ausbildungsplätze.

Doch das AMS verfügt noch über eine zweite Statistik, bei der zusätzlich jene Lehrplätze berücksichtigt werden, die erst in den kommenden Wochen oder Monaten verfügbar sein werden, von Unternehmen aber bereits gemeldet wurden. Nimmt man diese Zahl als Basis, herrscht in Österreich ein Mangel an Lehrlingen. Dann gibt es in Österreich aktuell 2.520 Lehrplätze zu viel. Arbeitsmarktexperten halten im Grunde beide Werte für relevant. Ein Betrieb, der eine Stelle ausschreibt, die erst im Oktober oder November zu besetzen ist, muss ja schon deutlich früher Bewerber sichten.

Streit um Asylwerber löst Reform aus

Der politische Streit rund um die Zukunft von etwas mehr als 1.000 Asylwerbern, die derzeit eine Lehrausbildung absolvieren, hat das System der dualen Ausbildung in das Zentrum politischer Debatten gerückt. Dabei steht seit dieser Woche fest, dass ein größerer Umbau kommen wird. Die Bundesregierung will die Lehre für Drittstaatenangehörige in Mangellehrberufen öffnen. Aktuell gibt es österreichweit 40 Berufe mit ausgewiesenem Mangel, die Bandbreite reicht vom Einzelhandelskaufmann über den Elektrotechniker bis hin zum Koch. Wie das neue System aussehen soll, ist unklar.

Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer sprach am Dienstag in Ö1 davon, dass man gezielt Menschen in Südostasien oder im Nahen Osten anwerben wolle – in Ländern mit einem ähnlichem Bildungssystem wie in Österreich.

Doch wie viele Lehrlinge braucht das Land? Darüber tobt schon eine neue Debatte. Susanne Hofer, Vorsitzende der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), rückte am Dienstag aus, um festzuhalten, dass es deutlich mehr Lehrlinge als verfügbare Lehrstellen gibt, und zwar besonders dann, wenn man auch die überbetriebliche Lehre berücksichtige.

Da in Österreich krisenbedingt lange ein Mangel an Lehrplätzen geherrscht hat, wurde die überbetriebliche Lehre geschaffen. Dabei werden die jungen Menschen bis 25 primär nicht im Betrieb ausgebildet. Das übernimmt eine vom Arbeitsmarktservice AMS beauftragte Bildungseinrichtung in einer Lehrwerkstätte. Auch in diesen Werkstätten lernen die jungen Menschen zum Beispiel Schweißer oder Elektrotechniker. Einmal in der Woche besuchen sie die Berufsschule. Aktuell absolvieren laut AMS 8.300 Menschen eine überbetriebliche Lehre. Berücksichtigt man diese jungen Menschen in der Statistik als zusätzliche Lehrstellensuchende, schlägt das Pendel in der Tat endgültig in Richtung Mangel am Lehrstellenmarkt aus.

Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben

Doch auch hier ist die Sachlage bei genauerem Hinsehen kompliziert, sagen Arbeitsmarktexperten. Menschen in einer überbetrieblichen Ausbildung stehen für die Betriebe nicht zur Verfügung. Doch in vielen Fällen nehmen die überbetrieblichen Lehrwerkstätten junge Menschen erst auf, wenn diese bei Betrieben keine Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, "weil sie nicht rechnen, schreiben oder grüßen können", wie AMS-Chef Johannes Kopf sagt. Auch der Arbeitsmarktexperte vom Wifo, Helmut Mahringer, spricht von einem Problem in den Schulen: Viele angehenden Lehrlinge können nicht gut genug lesen und schreiben, weshalb sie von Betrieben abgelehnt werden. Wie viele der 8.200 überbetrieblichen Lehrlinge am freien Markt also eine Chance hätten unterzukommen, ist fraglich.

Das AMS hat in den vergangenen Monaten seine Bestrebungen, die Menschen aus den überbetrieblichen Lehrwerkstätten in Betriebe zu vermitteln, verstärkt, sagt Kopf dem STANDARD. Das AMS hat die Verträge mit den Ausbildungseinrichtungen geändert. Es gibt nun Prämien für jeden Lehrling, der aus der Werkstätte in einen Betrieb vermittelt wird.

In Österreich ist der Lehrstellenmarkt von Bundesland zu Bundesland verschieden. Hinzu kommt ein Stadt-Land-Gefälle, in der Stadt ist der Andrang stärker, sodass der Ökonom Mahringer davon spricht, dass in Österreich derzeit Mangel parallel zu einem Überschuss an Lehrlingen besteht. Dass in den vergangenen Monaten immer öfter vom Mangel die Rede ist, liegt an der guten Konjunkturlage. Krisenbedingt sank die Zahl der verfügbaren Lehrplätze lange, seit 2015 steigt die Zahl wieder.

Internationales Erfolgsmodell

Darin liegt für Mahringer eines der Kernprobleme bei der Lehre, einem System, das international als Erfolgsmodell gilt, weil Lehrlinge vergleichsweise gute Jobperspektiven haben: Die Zahl der Ausbildungsplätze schwankt mit der Konjunktur. Wenn also die Lehre für Drittstaatenangehörige geöffnet wird, die Konjunktur wieder abflaut, könnte die ganze Aktion zum Papiertiger verkommen.

Der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Christoph Neumayer, sagt dazu allerdings, dass die Erfahrung der vergangenen Jahre gezeigt habe, dass in bestimmten technischen Berufen selbst bei schwacher Konjunktur Mangel herrscht. Als Beispiele nennt er Softwaretechniker, Schweißer und andere technische Berufe, die auch unmittelbar nach Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 in Österreich laut Neumayer gefehlt haben. (András Szigetvari, 29.8.2018)