Gegenüber dem Festivalpalast steht ein tiefrot gefärbtes Zelt von Campari, ansonsten sieht alles aus wie immer. Das Filmfestival von Venedig, das älteste seiner Art, muss sich auch in seinem 75. Jahr nicht groß in Schale werfen. Doch obwohl es am Lido traditionell gelassener zugeht als im selbstverliebten Cannes oder demnächst in Toronto, hat die Biennale ihre Bedeutung wahren können; nicht zuletzt damit, dass US-Filme wie Birdman, Gravity oder The Shape of Water hier ihre Weltpremiere erlebten, um dann zu einer ertragreichen Reise in Richtung Oscars aufzubrechen.

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Ryan Gosling als US-Astronaut Neil Armstrong in "First Man".
Foto: AP

In der Jubiläumsausgabe ist es Festivaldirektor Alberto Barbera mit seinem Pragmatismus gelungen, besonders viele arrivierte Namen des Weltkinos zu gewinnen. Im Unterschied zu Cannes zeigt man zudem keine Berührungsängste mit Netflix und hat den Wettbewerb großzügig für die Streaming-Plattform geöffnet. Mit dem Resultat, dass nun etwa Filme von Alfonso Cuarón (Roma) und den Coen-Brüdern (The Ballad of Buster Scruggs) zu sehen sind, auch die unvollendete Mockumentary The Other Side of the Wind von Regielegende Orson Welles wird gezeigt.

Konturierte Auswahl

Barberas Kurs erscheint schon deshalb sinnvoll, weil Filmemacher solchen Kalibers auf Filmfestivals nicht ignoriert werden sollten. Der Wandel in der Distributionslandschaft lässt sich an dieser Front ohnehin nicht aufhalten. Wichtiger ist es, der Content-Beliebigkeit von Online-Plattformen hier eine konturierte Auswahl entgegenzusetzen. Und dafür kann Barbera dieses Jahr aus dem Vollen schöpfen. Mit dem Briten Mike Leigh, dem international produzierenden Griechen Yorgos Lanthimos oder Olivier Assayas finden sich etliche Regisseure im Programm, deren Filme ansonsten in Cannes zu finden sind.

Sogar den Vorwurf, dass nur eine einzige Frau (die Australierin Jennifer Kent mit The Nightingale) im Rennen um eine Auszeichnung ist, kennt man eher aus Frankreich. In einem offenen Brief protestierte das European Women's Audiovisual Network im Vorfeld gegen dieses Missverhältnis. Barbera wiederum meinte patzig, wenn man ihn zwingen würde, einen Film in die Auswahl aufzunehmen, nur weil er von einer Frau sei, würde er lieber zurücktreten. Warum die neuen Filme von Claire Denis, Mia Hansen-Løve oder Karyn Kusama nicht in Venedig, sondern kurz danach in Toronto laufen, bleibt rätselhaft.

Unsterbliche Sätze

First Man, der Eröffnungsfilm von Senkrechtstarter Damien Chazelle, ist diesbezüglich natürlich nicht als Statement gemeint – auch wenn der Eröffnungsfilm stark auf einen männlichen Helden ausgerichtet ist. Wie schon La La Land mit Ryan Gosling in der Hauptrolle besetzt, erzählt der Film vom "Space Race" bis zu jenem historischen Moment, an dem der US-Astronaut Neil Armstrong seine unsterblichen Sätze beim Betreten des Mondes aussprach.

Bereits in Einstellung eins lässt sich äußerst physisch miterleben, dass der 33-jährige Chazelle in seinem ersten Film mit historischem Setting nichts dem Zufall überlässt. Armstrong durchbricht in einem Jet scheppernd die Atmosphäre, die Stille, die dann wie eine Belohnung folgt, währt jedoch nur kurz. Die nächste Panne lauert in diesem Film immer gleich um die Ecke im All.

Trailer zu "First Man".
Universal Pictures

Weil Chazelle auf die historische Details genau achtet, trifft er den heute verwegen wirkenden Abenteuergeist im noch analogen Zeitalter gut. Verluste spielen eine wichtige Rolle, nicht unbedingt nur die Erfolge, beziehungsweise bedingt sich beides gegenseitig. Das beginnt schon mit dem privaten Unglück der Armstrongs, als die gerade einmal zweijährige Tochter an einem Tumor stirbt. Es ist dies ein charakteristisches Manöver Chazelles, mit Zurückhaltung setzt Pathos ein. Das verlorene Kind ist der Stein im Herzen des Astronauten. Er handelt nicht aus Forschungsgeist oder Patriotismus, sondern aus sentimentalen Gründen. Darin liegt der Grund, warum er in Belastungstests nicht bewusstlos wird.

Ungewöhnliche Heldengeschichte

First Man bleibt deshalb eine ungewöhnliche Heldengeschichte. Verliehe Gosling ihm nicht sein sonniges Charisma, würde dieser Armstrong wohl abweisend wirken. Er kann seinen Verlust nicht vergessen. Der Blick zum Mond wird zum Ausdruck seiner Sehnsucht. Dem Familiendasein räumt das Drehbuch fast zu viel Raum ein. Denn obwohl Claire Foy als Armstrongs Ehefrau einige intensive Momente hat, bleiben die Abläufe zwischen dem Ehepaar etwas schablonenhaft.

Stärker ist der Film, wo er die Abläufe innerhalb der Nasa beschreibt – das Bonding zwischen den Männern, die Strapazen und Stresssituationen, die sie gemeinsam durchleiden. Die Szenen im Weltall sind auch deshalb kraftvoll, weil Chazelle die Männer als bubenhafte Draufgänger zeichnet. Und auch wenn es dieses Mal kein Musical ist, spielt Justin Hurwitz' Musik wieder eine tragende Rolle. Das auf einem Theremin gespielte Leitmotiv fügt sich schön in die schwermütige Perspektive dieses modernen Abenteuerfilms ein. (Dominik Kamalzadeh, 29.8.2018)