In Chemnitz vergeht kaum ein Tag, an dem nicht demonstriert wird. Für den Samstag haben ostdeutsche AfD-Landesverbände zu einem "Schweigemarsch" aufgerufen.

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Barbara Ludwig kann einem leidtun. Kaum beginnt die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Chemnitz zu reden, da schlägt ihr die Wut von hunderten Menschen entgegen. "Hau ab! Hau ab! Sei ruhig!", tönt es laut und schrill durch einen Saal des Chemnitzer Stadions. Auch Sätze wie "Du hast keine Ahnung!" und "Immer das gleiche Blabla" sind zu hören. Ludwig steht tapfer auf der Bühne und redet weiter. Sie spricht von "Liebe" und "Hass", die derzeit in der Stadt zu spüren seien – und erntet dafür nur lautes Hohngelächter. "Da werden Deutsche abgeschlachtet!", ruft einer aus dem Publikum. Für einen Moment hat man Angst, dass sich jemand auf sie stürzt.

Immerhin: Ludwig muss diese Aggression nicht alleine aushalten. Um sie hat sich die schwarz-rote sächsische Landesregierung versammelt, viele Mitglieder schauen betreten drein. "Sachsengespräch" heißt das, was auf dem Programm steht: mit Bürgerinnen und Bürgern "locker" ins Gespräch kommen, um zu erfahren, was diese ein Jahr vor der Landtagswahl bewegt. In Chemnitz ist es klar: die Ereignisse der vergangenen Woche.

Nach einer Bluttat an einem Deutschen zogen mehrere Tausend Rechte und Rechtsextreme durch die Stadt, Wutbürger verschmolzen mit Hooligans zu einem Mob (siehe Kasten). Die Stadt wurde zum Symbol des deutschen Rechtsrucks. "Wir wollen fair und offen miteinander reden", mahnt Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Auch er wird erst ausgebuht, doch er stellt sich geschickt vor die Chemnitzer. Viele von ihnen hätten geklagt, dass sie jetzt für Nazis gehalten werden, aber das stimme doch gar nicht. "Ich weiß das", sagt er mit Nachdruck. Dafür gibt es Applaus.

"Ganz normale Leute"

"Haut ab"-Rufe dringen jetzt von draußen herein. Vor dem Stadion hat die rechte Bewegung "Pro Chemnitz" zu einer Demo aufgerufen. "Ich bin mit der Asylpolitik von Angela Merkel nicht einverstanden", sagt ein Teilnehmer, "aber wenn ich das sage, werde ich als Nazi abgestempelt. Das stört mich, deshalb bin ich heute hier." Ich bin kein Nazi, wir sind keine Nazis – das sind auch die Sätze, die Kretschmer später im kleineren Kreis mit rund 30 Bürgerinnen und Bürgern immer wieder hört.

"Wir waren bei der Demo", erklärt eine Rentnerin, "dort habe ich viele Bekannte getroffen, ganz normale Leute. Wir sind auch alle gegen Gewalt." Und dann fügt sie noch hinzu, an Kretschmer direkt gewandt: "Ich habe genug von Ihrer Schönrednerei." Kretschmer ist die Anspannung anzusehen, er wiederholt sein Mantra. Das lautet: Gewalt ist keine Lösung, man müsse jetzt wieder für Ruhe und Ordnung sorgen.

Das mit den Hitlergrüßen will er nicht durchgehen lassen, da müssten sich die Chemnitzer schon dagegen stellen und sagen: "Mit denen haben wir nichts zu tun". "Sie relativieren doch", brüllt ein junger Mann aufgeregt, "da ist ein Deutscher umgebracht worden, und Sie regen sich über den Hitlergruß auf. Das Schlimme ist doch der Mord." Ein anderer erklärt, zu wissen, wie das wirklich war: "Die Linken haben extra die Hand gehoben, um zu provozieren."

Emotional abrüsten

"Genau", ruft ein weiterer, "und das war dann überall im Fernsehen zu sehen! Total verzerrt das Ganze!" Freunde aus London hätten ihn entsetzt angerufen und gefragt, was denn los sei. Viele wollen nun ihre Geschichten loswerden: Von "Ausländer-Kindern", die die deutschen aus den Sandkästen vertreiben, von "jungen Arabern", die Frauen mit Blicken ausziehen. "Sie müssen doch verstehen, dass die Leute auf die Straße gehen, die haben Angst", sagt eine Frau zum Ministerpräsidenten.

Der versucht, den Blick nach vorne zu lenken: "Kriegen wir es hin, emotional ein bisschen abzurüsten?" Kretschmer spricht von Sicherheitspartnerschaften, von Polizei und Justiz, in die er Vertrauen habe. Der Mord, der den rechten Ausschreitungen vorangegangen ist, werde restlos aufgeklärt. Vereinzelte Klatscher sind zu hören. Immer wieder bittet der Politiker um Besonnenheit, während sich der Saal kaum beruhigen will.

Abschiebung nicht vollzogen

Die Sache dürfte noch nicht ausgestanden sein. Am Freitag wurde bekannt, dass einer der mutmaßlichen Täter schon 2016 nach Bulgarien abgeschoben werden hätte sollen, da er dort zuvor einen Asylantrag gestellt hatte. "Vollzogen wurde die Abschiebung in der Folgezeit jedoch nicht", so das Verwaltungsgericht Chemnitz. In diesem Fall sei der Bund für die Abschiebung zuständig gewesen, stellte Sachsens Ministerpräsident Kretschmer schnell klar. Ein Sprecher von Innenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, man prüfe dies gerade.

Auch ein Ende der Demos ist noch nicht abzusehen. Für Samstag haben die AfD-Landesverbände Sachsen, Thüringen und Brandenburg zu einem Schweigemarsch durch Chemnitz aufgerufen. AfD-Chef Alexander Gauland, der aus Chemnitz stammt, sprach sich zwar gegen Menschenjagden und Hitlergrüße aus, meint aber: "Ausrasten ist nach einer solchen Tat legitim." Die rechte Partei, die die Chemnitzer Proteste entscheidend angefacht hat, liegt nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen auf einem Rekordhoch von 17 Prozent.

Konzert soll verboten werden

Beim "Sachsengespräch" setzt sich Kretschmer in die Nesseln, als er eine weitere Veranstaltung erwähnt: Das Konzert gegen Rechts, das am Montag unter dem Motto "Wir sind mehr" stattfinden wird. "Buh!" und "Pfui", rufen viele. Kretschmer solle es verhindern, denn: "Da wird die linke Szene wieder provozieren."

Der wird unwirsch: "Ich kann doch kein Konzert verbieten! Das gehört zur Jugendkultur." Am Ende des Diskussionsabends ist die Stimmung entspannter. Hat es was gebracht? "Wir müssen uns doch zusammenraufen", sagt jemand. Sein Begleiter sieht es anders: "Jetzt haben wir halt mal darüber geredet. Aber wir wissen doch genau, dass sich nichts ändern wird." (Birgit Baumann aus Chemnitz, 31.8.2018)