Fast acht Jahre nach den Volksaufständen in Nordafrika von 2011 ist nicht viel übrig geblieben von den Träumen vieler Menschen, die nach Jahrzehnten der Repression auf eine Verbesserung der politischen und vor allem sozialen Lage gehofft hatten. Während Jemen und Libyen in gewaltsamen Konflikten versinken und die Restauration der Militärherrschaft in Ägypten unaufhaltsam voranschreitet, wird einzig Tunesien als Vorreiter eines erfolgreichen demokratischen Übergangs gepriesen.

In Sachen Demokratisierung und Ausweitung von Freiheitsrechten hat das kleine nordafrikanische Land in der Tat große Fortschritte gemacht. Doch diese Fortschritte täuschen über die Tatsache hinweg, dass sich in Tunesiens Hinterland wenig bis gar nichts zum Besseren gewendet hat. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten haben sich vielmehr massiv verschärft und bedrohen inzwischen den sozialen Frieden im Land.

Die autokratische Diktatur von Staatschef Ben Ali ist seit 2011 Geschichte. Die Perspektiven der Jugend verbessern sich aber kaum.

Das Ringen der großen Parteien um Einfluss und Macht, aber auch der externe Druck internationaler Geldgeber lähmt die Zentralregierung, der es an Mitteln und Ideen mangelt, der Marginalisierung des Hinterlandes und der sozioökonomischen Perspektivlosigkeit der tunesischen Jugend wirksam etwas entgegenzusetzen.

Angesichts dessen verwundert es kaum, dass aus keinem anderen Staat derart viele Menschen nach Europa fliehen. Tunesien steht mit Abstand an der Spitze der nach Nationalitäten aufgeschlüsselten Migrationsstatistik für 2018.

Seit Januar zählte die UN-Migrationsbehörde IOM bereits 3321 Tunesier und Tunesierinnen, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa gekommen sind – das entspricht fast einem Fünftel aller auf dieser Route in die EU gekommener Migranten.

Viele Versprechen

"Politisch verbessert sich die Lage in Tunesien – vor allem in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit sowie Frauenrechten. Aber die Menschen im Süden wollen vernünftige Jobs und Gehälter, um ihre Familien versorgen zu können, das ist ihre Priorität. Sie scheren sich wenig um die politischen Entscheidungen, die nichts mit der Wirtschaftslage zu tun haben", meint Mounib Baccari von der NGO Watch The Med Alarmphone in Tunis, die eine Notfallhotline für Menschen in Seenot unterhält und die EU-Grenzabschottungspolitik im Mittelmeerraum massiv kritisiert.

"Man hat diesen Menschen viel versprochen nach der Revolution; neue Wirtschaftsprojekte und Jobs, aber es hat sich nicht wirklich etwas verändert", erzählt der 26-jährige IT-Ingenieur. Daher hätten vor allem Menschen in den Phosphatabbaugebieten in Südtunesien das Vertrauen in die Regierung verloren. "Sie haben mit Protesten und Streiks versucht, einen größeren Anteil der Profite der dortigen Minenunternehmen abzubekommen – allerdings ohne Erfolg", so der Aktivist.

Während es Tunesiens Küstenregionen aufgrund des Tourismussektors und staatlicher Investitionen vergleichsweise gutgeht, leiden die unterentwickelten Provinzen im Hinterland an den Folgen der fehlgeschlagenen Wirtschaftspolitik des Staates. Der Fall des Phosphatproduzenten CPG aus der Region Gafsa im Südwesten Tunesiens steht dabei sinnbildlich für die strukturellen Verwerfungen, die die Hinwendung zu neoliberalen Wirtschaftskonzepten seit den 1970er-Jahren nach sich zogen.

Die Staatsfirma ist bis heute der wichtigste Arbeitgeber in der Region, der auch Teile der lokalen Infrastruktur mitaufgebaut und unterhalten hat. Doch die Anzahl der Angestellten ist seither von mehr als 16.000 auf rund 6000 reduziert worden, während die Vergabeprozeduren für neue Jobs durch Klientelismus und Intransparenz gekennzeichnet sind.

Seit 2008 war die Region auch deshalb immer wieder Schauplatz massiver Protest- und Streikwellen, in dessen Rahmen staatliche Investitionen und Arbeitsplätze gefordert wurden. Auch die jüngste landesweite Protestwelle im Januar, die sich gegen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegte Austeritätspolitik der Regierung richtete, hatte ihren Ausgangspunkt in diesen vernachlässigten Regionen Südtunesiens.

IWF rückt aus

Derweil gelten die an das 2,9 Milliarden US-Dollar schwere Kreditpaket des IWF geknüpften Wirtschaftsreformen wie die partielle Freigabe der tunesischen Währung, die seit 2015 rund 50 Prozent an Wert verloren hat, sowie die restriktive Ausgabenpolitik der Regierung als Katalysator der anhaltenden Wirtschaftskrise.

Anstatt gegen die weitverbreitete Steuerhinterziehung, den Klientelismus und die intransparenten Einstellungsprozeduren im Staatssektor vorzugehen oder die Formalisierung der informellen Wirtschaft im Land voranzutreiben, wird die Krise dadurch auf dem Rücken Einkommensschwacher und der Mittelschicht ausgetragen.

Jihen Chandoul, Mitbegründerin der tunesischen NGO Observatoire Tunesien de l'Economie, gibt dem IWF eine explizite Mitschuld an der Eskalation der sozialen Schieflage. Der IWF habe Tunesien, aber auch Ägypten, Marokko und Jemen nach den Revolten 2011 üppige Kreditpakete angeboten und sich dabei die "instabile Situation und die Schwäche dieser Staaten" zu nutzen gemacht, um neoliberale Reformen durchzudrücken, schreibt sie in der britischen Tageszeitung The Guardian. Tunesiens Schuldenrate sei von 41 Prozent des BIPs im Jahre 2010 auf heute 71 Prozent gewachsen. Heute müsse der Staat 22 Prozent seines Budgets für den Schuldendienst aufbringen.

Schwere Altlasen

Auch aufgrund dieses Zusammenhangs gebe es in der Tat Menschen, die die Revolution für die aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich machen, berichtet Baccari. Das Gros der von der Wirtschaftskrise Betroffenen erkenne allerdings durchaus, dass die derzeitige Lage eine Folge der Politik des alten Regimes in den vergangenen 20 oder 30 Jahren sei.

Die Enttäuschung über die politische Führung des Landes weitet sich derweil aus ebenso wie die Resignation über deren Problemlösungskompetenz im Allgemeinen. Während die beiden einflussreichsten Parteien im Land – die als Sammelbecken für alte Kader des 2011 gestürzten Regimes Ben Alis geltende Nidaa Tounes und die gemäßigt islamistische Ennahda – damit beschäftigt sind, Amnestiegesetze für Verbrechen aus der Ära des autokratischen Staatschefs Ben Ali durchzuboxen oder religiös aufgeladene Diskurse zu pflegen, werden sozioökonomische Forderungen auch weiterhin ignoriert oder mit leeren Versprechungen abgespeist.

Die irreguläre Migration über das Mittelmeer fungiert derweil als das einzig verbliebene Ventil für den Frust und die Perspektivlosigkeit der tunesischen Jugend. (Sofian Naceur, 1.9.2018)