"Hetzjagd, die: (abwertend) das Verfolgen, Jagen eines Menschen", sagt der Duden. In Deutschland ist eine Debatte darüber entbrannt, ob es in Chemnitz Hetzjagden gab und was darunter zu verstehen ist.

Foto: imago/Christian Mang

Kam es nach dem gewaltsamen Tod eines Deutschkubaners Ende August in Chemnitz zu "Hetzjagden"? Über diese Frage ist in Deutschland eine politische und semantische Debatte entbrannt.

Nachdem bei einem Stadtfest ein 35-jähriger Chemnitzer mit mehreren Messerstichen getötet, zwei weitere Menschen schwer verletzt und als Tatverdächtige ein syrischer und ein irakischer Asylwerber verhaftet worden waren, haben rechte Gruppierungen zu Protestkundgebungen mobilisiert. Zahlreiche Menschen zogen daraufhin am 26. August und in den folgenden Tagen durch die Straßen von Chemnitz. Darunter befanden sich nach Polizeiangaben auch mehrere Dutzend als gewaltbereit bekannte Personen aus der Hooliganszene. Rechtsextreme und fremdenfeindliche Slogans wurden gebrüllt, mehrere Neonazis zeigten den Hitlergruß. Polizisten, Journalisten und Migranten wurden attackiert, bedroht und beschimpft.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte zu den Vorfällen: "Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab." Am Vortag hatte schon Regierungssprecher Steffen Seibert bei der Bundespressekonferenz im gleichen Wortlaut wie die Bundeskanzlerin unter Berufung auf Videos von Zusammenrottungen und Hetzjagden gesprochen. Die Diktion wurde von den Medien fast ausnahmslos übernommen. Die in Chemnitz ansässige Freie Presse erklärte jedoch, dass es zwar zu Übergriffen aus der Demonstration heraus gekommen sei, der Redaktion aber keinerlei Material vorliege, das eine "Hetzjagd" dokumentiere.

Widerspruch an der offiziellen Stellungnahme aus Berlin kam in der Folge von offiziellen Stellen Sachsens. Die Generalstaatsanwaltschaft des Bundeslandes erklärte: "Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben." Am vergangenen Mittwoch hielt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in einer Regierungserklärung fest: "Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab kein Pogrom in Chemnitz." Schließlich reihte sich auch der Präsident des Verfassungsschutzes in die Liste der Zweifler ein: "Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz wird von mir geteilt", erklärte Hans-Georg Maaßen der Bild. Dem Verfassungsschutz lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben".

Merkel nicht informiert

Ein im Internet kursierendes Video hält er für möglicherweise nicht authentisch: "Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken." Maaßen erntete für diese Aussagen umgehend heftige Kritik und Rücktrittsforderungen aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken. Er war zuletzt unter Beschuss geraten, weil er sich mit Funktionären der rechten AfD getroffen hatte. Seibert wiederum erklärte, die Bundeskanzlerin sei vom Verfassungsschutz noch nicht über mögliche Zweifel an der Echtheit des Videos informiert worden. Innenminister Horst Seehofer stärkte Maaßen den Rücken: "Mein Informationsstand ist identisch", befand er.

Während rechtsextreme Slogans und Wiederbetätigung bei den Protesten in Chemnitz zahlreich dokumentiert sind, existiert tatsächlich recht wenig Videomaterial zu gewaltsamen Übergriffen. Maaßen bezieht sich vermutlich auf eine wenige Sekunden dauernde Videosequenz, die von einem anonymen Account namens "Antifa Zeckenbiss" verbreitet wurde. Darin ist zu sehen, wie ein Hooligan einen Migranten einige Meter weit verfolgt. Der "Faktenfinder" der ARD sieht jedoch keine Anzeichen dafür, dass das Video nicht eine Szene der rechten Aufmärsche zeige.

Das Video wurde demnach zuvor nicht veröffentlicht, Journalisten berichteten, im fraglichen Zeitraum in der Nähe des Johannisplatzes ähnliche Szenen beobachtet zu haben. "Ich habe gesehen, wie es zu Jagdszenen auf vermeintliche Migranten gekommen ist", sagte etwa der Zeit-Journalist Johannes Grunert. "Es gibt darüber Videos. Es gibt Anzeigen. Es gibt seit dem 26. August 120 Ermittlungsverfahren", sagte auch SPD-Chefin Andrea Nahles. Vor diesem Hintergrund seien Maaßens Äußerungen nicht nachvollziehbar.

Vorschnelle Urteile

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer mahnte zu Differenzierung. Seibert habe "nur wenige Stunden nach dem Mord und den Demonstrationen den Begriff Hetzjagd eingebracht. Für ein amtliches Lagebild war das viel zu früh." Die Regierung stehe aber unter Druck, denn: "Wer zu lange zögert, solche Taten zu verurteilen, wird selbst verurteilt."

(vos, red, 7.9.2018)