Nach John Olivers "Last Week Tonight"-Beitrag über Mike Pence im März 2018 blieb nicht nur dessen Kaninchen Marlon Bundo im Gedächtnis. Auch das religiöse Umfeld von Pence wurde thematisiert und dabei vor allem eine medial und politisch besonders aktive evangelikale Organisation, die bis dorthin in Europa noch weitgehend unbekannt war: Die Rede ist von "Focus on the Family". Als sich für mich diesen Sommer die Gelegenheit ergab, das Hauptquartier von "Focus on the Family" in Colorado Springs zu besuchen, war ich, getrieben von einem gewissen ethnographischen Interesse und zahlreichen Vorurteilen, die sich letztlich allesamt bestätigen sollten, also mehr als gespannt. Wird es wie ein Ausflug in eine Jesus-Camp-Doku? Wird es um Trump gehen? Wie offen wird sich ihre Homophobie äußern? Wie wird das obligatorische Indoktrinierungsvideo aussehen?

LastWeekTonight

"Mike Pence: Last Week Tonight With John Oliver" – zu "Focus on the Family" ab Minute 10:20.

Die europäische Perspektive auf amerikanische Evangelikale ist schließlich meist eine durch bequeme Distanz geprägte: Im eigenen Alltag ist man damit kaum konfrontiert, weshalb es auch leicht fällt, über ihre ultrakonservativen Wertvorstellungen und deren bizarr anmutende Vermarktung ab und zu vor Staunen zu lachen – auch wenn dieses Lachen immer von einem gewissen Schaudern begleitet wird. Findet man sich jedoch plötzlich in deren durch eine Privatspende von vier Millionen US-Dollar finanzierten Welcome Center inmitten des Hauptquartiers wieder, das so groß ist, dass es über eine eigene Postleitzahl verfügt,¹ überwiegt langsam doch das Schaudern.

Foto: AP/Ed Andrieski
Das Hauptquartier in Colorado Springs.
Foto: AP/Ed Andrieski

Was ist "Focus on the Family"?

"Focus on the Family" wurde 1977 von James Dobson, einem amerikanischen Kinderpsychologen und Sohn eines Predigers, gegründet. Dobson hatte sich bereits in den frühen 70ern mit Büchern wie "Dare to Discipline" (1970), einem flammenden Plädoyer für die Prügelstrafe, einen Namen innerhalb konservativer Kreise gemacht, insbesondere innerhalb der christlichen Rechten. Das Buch war ein großer Erfolg: Dobson trat immer öfter als öffentlicher Redner auf, zumeist bei kirchlichen Veranstaltungen verschiedener Art, und schließlich auch immer häufiger in diversen Medien. 1977 gründete er dann "Focus on the Family". Was als fünfundzwanzig-minütige Radio-Talkshow begann, wuchs im Laufe der 80er zu einem regelrechten evangelikalen Medienimperium heran. Heute gehört "Focus on the Family" mit rund 6,3 Millionen Radiohörern wöchentlich, zahlreichen Magazinen, Buchprojekten und Webserien zu den bedeutendsten und einflussreichsten evangelikalen Organisationen der USA. 2016 betrug der Gesamtumsatz der Organisation über 93 Millionen US-Dollar.

James Dobson, der Gründer von "Focus on the Family".
Foto: AP/James Dobson

Im Zentrum der Tätigkeiten von "Focus on the Family" steht das Verbreiten konservativ-christlicher Inhalte hinsichtlich Ehe, Kindererziehung und Familie. Dies geschieht einerseits durch diverse Medienoutlets und andererseits durch verschiedene Veranstaltungen wie den "Bring Your Bible to School Day" oder diverse Vortragsreihen. Die wohl bekannteste ist "Love Won Out", die auch John Oliver in seinem Beitrag anspricht: Eine mittlerweile eingestellte Ex-Homosexuellen-Konferenz, die nach eigenen Angaben Menschen dabei helfen soll, ihre ungewollten gleichgeschlechtlichen Anziehungen zu überwinden, sprich: gay conversion therapy. Auch auf der Homepage von "Focus on the Family" finden sich zahlreiche Ratgeberartikel und Ressourcen, aus denen klar hervorgeht, dass Homosexualität als heilbares Problem gesehen wird.

Männliche Homosexualität wird dabei offenbar als besonders problematisch empfunden.Keine politische Organisation?Obwohl sich Focus on the Family mit ihren Beratungstätigkeiten, Projekten, Veranstaltungen oder Ratgebermedien unterschiedlichster Art primär als eine Art gemeinnützige Hilfsorganisation im Kampf für den Erhalt der nach eigener Wahrnehmung gefährdeten amerikanisch-christlichen Kernfamilie gibt und immer wieder betont, keine politische Organisation zu sein, ist die Geschichte politischer Einflussnahme und aktiven Lobbyings, insbesondere durch Dobson, eine lange. So war dieser beispielsweise in Beratungsausschüssen für Jimmy Carter und Ronald Reagan tätig und betrieb 2004 aktiv Wahlkampf für George W. Bush.², ³

Dobson und George W. Bush 2008 im East Room des Weißen Hauses.
Foto: AP/Ron Edmonds

2009 legte Dobson sein Amt als Präsident der Organisation nieder. Mit seinem Nachfolger, Jim Daly, blieben die Inhalte und der Fokus zwar derselbe, jedoch änderten sich insbesondere der Ton und die Vermarktung. Man tritt nun moderater auf, weniger polemisch: "Hate the sin and love the sinner",⁴ erklärt Daly etwa auf einer Diskussionsveranstaltung an der University of Colorado. Aber um welche Sünden geht es hier? Es sind nach wie vor dieselben wie jene, die Dobson in den 70ern schon Bauchschmerzen bereitet hatten.

Focus on the Family Singapore

Neben der bereits angesprochenen Homosexualität ist Abtreibung, ein in den USA im Gegensatz zu Europa bekanntlich viel heftiger diskutiertes und umstrittenes Thema, ein zentraler Brennpunkt. So finanziert "Focus on the Family" beispielsweise diverse sogenannte Crisis Pregnancy Centers, also Einrichtungen, in denen Frauen, die ungewollt schwanger sind, von einer Abtreibung abgehalten werden sollen – für gewöhnlich ohne dieses Ziel für die Patientinnen von Anfang an offen zu legen.⁵

Im Reich des selbsternannten Guten

Weiß man über die Geschichte und diverse Aktivitäten der Organisation und ihres Umfeldes Bescheid, ist es ein durchaus eigenartiges Gefühl, sich durch deren riesiges Welcome Center zu bewegen, wo lächelnde Ehepaare und glückliche Kinder, Bibelverse und Kreuze von allen Wänden leuchten. Nach einer kurzen Begrüßung und Führung durch das Gebäude wurden wir in ein Auditorium gebracht. Dort erwartete uns unter anderem eine Diskussion mit zwei Pressesprechern der Organisation. Die Diskussion war denkbar unergiebig: Es war ein seltsames hin und her zwischen kritischen Fragen und höflich ausweichenden Antworten. Interessant war das wiederkehrende Opfernarrativ nach welchem evangelikale Christen in den USA laufend Diskriminierungen ausgesetzt seien, besonders durch liberale Medien und die LGBTQ-Community. Naja.

Traditionelle Geschlechterrollen als Grundpfeiler der Werte von "Focus on the Family".
Foto: Kathrin Trattner

Die im Ton moderatere Linie Dalys, die Diskussionsbereitschaft auch gegenüber liberalen Kreisen signalisieren soll, war dennoch unverkennbar: Man bleibt stets höflich und wird nie polemisch. Man will nicht für bigott gehalten werden, obwohl man im Kern nur bigotte Antworten gibt. Die Diskussion hinterließ einen komischen Nachgeschmack. Erheiternder war der abschließende Besuch des hauseigenen Buchladens. Zwischen konservativen Erziehungsratgebern, Dobson-Bestsellern wie "Marriage under Fire" und christlichen Comics wie "Vladimir, Prince of Russia" fand man in diesem evangelikalen Disneyland quasi alles bis auf Computerspiele. Diese sind offenbar das einzige Medium jenseits der Grenze des für die Botschaft des Evangeliums Dienlichen – zumindest für "Focus on the Family".

Craig Service

Als wir wieder im Bus saßen, war ich sehr erleichtert, den Sticker mit dem Logo von "Focus on the Family" wieder abnehmen zu können. Es blieb vor allem das unangenehme Bewusstsein zurück, dass einer der wichtigsten Unterstützer der Organisation zurzeit als Vizepräsident im Weißen Haus sitzt. Auch wenn es manchmal lustig sein kann, über christliche Dating-Tipps auf der Homepage von "Focus on the Family" zu lachen und "Vladimir, Prince of Russia" ein gewisser Unterhaltungswert auch nicht abgesprochen werden kann, sollte man das nicht vergessen. (Kathrin Trattner, 19.9.2018)