Syrer in Binnish, östlich der Provinzhauptstadt Idlib, jubeln und schwenken eine türkische Fahne.

Foto: AFP / Omar Haj Kadour

Die türkischen Regierungsmedien haben am Tag nach Sotschi erwartungsgemäß Loblieder auf Staatschef Tayyip Erdoğan angestimmt und die Krise in der syrischen Grenzprovinz Idlib für gelöst erklärt. Doch hinter der Einigung zwischen Erdoğan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bei dem kurzfristig anberaumten Treffen am Montag in der Schwarzmeerstadt Sotschi, das nach zehn Tagen auf den offensichtlich schlecht vorbereiteten Syrien-Gipfel in Teheran gefolgt war, steht nicht zuletzt das Interesse Russlands, das Nato-Mitglied Türkei weiter auf seiner Seite zu haben.

DER STANDARD

Denn für Putin ist die Türkei ein außerordentlich nützliches Instrument, um die Atlantische Allianz zu schwächen und Russlands militärisches Gewicht weiter zu erhöhen. Putin hat seinem ähnlich autoritär regierenden Partner Erdoğan mittlerweile einiges zu bieten: einen nie dagewesenen Manövrierraum in Syrien, noch mehr Energielieferungen, eines der derzeit besten Flug- und Raketenabwehrsysteme, Touristen und Handel, stille Unterstützung türkischer Sonderinteressen gegenüber den Kurden oder auf Zypern und in Berg-Karabach, keine lästigen öffentlichen Belehrungen zu Rechtsstaat und Demokratie, einen hervorgehobenen Platz beim Aufbau einer alternativen, nicht länger vom Westen geprägten internationalen Ordnung zu Beginn dieses Jahrhunderts.

Die türkisch-russische Partnerschaft lässt sich auch vom anderen Ende her lesen: als Konsequenz von Machtlosigkeit und Desinteresse der Europäer an der Beilegung des Syrien-Kriegs, als Ergebnis der Abweisung der Türkei und ihrer Entfremdung von der EU, als Folge natürlich der derzeit isolationistischen Politik der USA und ihres erratischen Präsidenten.

Einmarsch in Nordsyrien

Nur mit dem Einverständnis Putins konnte die türkische Armee in den vergangenen zwei Jahren in Teile Nordsyriens einmarschieren. Mehr als ein Viertel, rund 240 der 820 Kilometer langen Grenze mit Syrien kontrolliert die Türkei nun auf beiden Seiten – von Atme, einem Dorf in der Südwestecke der Provinz Afrin, bis zur Stadt Jarablus am Euphrat. Auch in der Provinz Idlib steht die türkische Armee schon seit dem vergangenen Jahr und hat dort Kontrollpunkte errichtet; freilich, ohne das zu erreichen, was sie in Absprache mit Russland und dem Iran hätte tun sollen – die muslimischen Extremisten unter den Rebellen in Idlib zu stoppen und zur Aufgabe zu bewegen.

Kommt nun die russisch-türkische Pufferzone in Idlib so, wie sie in Sotschi vereinbart wurde, hat Ankara eine Flüchtlingswelle verhindert und seinen Zugang zu einem weiteren großen Abschnitt im Norden Syriens offizialisiert. Östlich des Euphrats stünden dann weiter die syrischen Kur- den, ganz im Westen hätte die syrische Regierung noch einen Zipfel der Grenze zur türkischen Provinz Hatay an der Mittelmeerküste.

Erdoğan geht es um den Platz der Türkei im Syrien der Nachkriegszeit. Das ist sein Interesse an der Partnerschaft mit Putin in Syrien, aber nicht primär auch das Interesse des russischen Präsidenten. Erdoğan ist für Putin nützlich, gleichsam als Billardkugel, um die USA aus der Region zu schießen.

Dem Nato-Staat Türkei das russische Abwehrsystem S-400 zu verkaufen und damit gleichzeitig Sanktionen des US-Kongresses gegen die Türkei zu provozieren und die Auslieferung neuer Kampfflugzeuge zu verhindern ist ein Meisterstück russischer Machtpolitik. Um die Strafzölle der USA gegen ihren Nato-Partner Türkei und das Anheizen der Lira-Krise musste sich Putin gar nicht erst bemühen. Das gelang Erdoğan und Donald Trump allein. Den Nutzen hat auch hier Russland.

Ob die Türkei am Ende des syrischen Kriegs, gestützt auf die von ihr finanzierten Rebellen, dauerhaft physische Kontrolle über weite Teile Nordsyriens ausüben kann, scheint völlig ungewiss. Putins Einverständnis wäre auch hierfür nötig. Er müsste den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vor einer Rückeroberung der türkisch kontrollierten Gebiete im Norden abhalten.

Erdoğan glaubt daran. Er sieht sich moralisch im Recht gegenüber den Assad-Helfern Russland und Iran, wie er dieser Tage erklärte. "Sie sagen: 'Das Regime hat uns hier eingeladen.' Wir dagegen sagen: 'Das syrische Volk hat uns eingeladen.' Das ist der Unterschied." Doch wenn es eine Konstante türkischer Syrien-Politik gab, so war es die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. (Markus Bernath, 18.9.2018)