Es gibt keine zweite Nation auf der Erde, die so wenig mit Demokratie und Menschenrechten wie die USA zu tun hat und es gleichzeitig dennoch jahrzehntelang so gut verstanden hat, der ganzen Welt – oder zumindest dem Großteil der westlichen Journalisten, aber die halten sich ja für "die Welt" – weißzumachen, dass sie der Inbegriff von Demokratie und Menschenrechten sei.

Dass nun plötzlich ein autoritärer, nach einer weit verbreiteten Lesart sogar geistig umnachteter Geldaristokrat die USA regiert, dem die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit schnurzegal sind, das erscheint folglich vielen als ein vollkommener Bruch. Tatsächlich aber können hier nur diejenigen erschüttert sein, die auf jenes von vornherein idealisierte Amerikabild hereingefallen sind, das in unserem Teil der Erde jahrzehntelang konstruiert und gepflegt wurde.

Trump ist ein durchschnittlicher Amerikaner

Demgegenüber muss festgehalten werden: Donald Trump ist nicht aus dem Nichts gekommen, Trump ist nicht vom Himmel gefallen. Und dass gerade ein Trump nun die USA regiert, ist alles andere als ein Zufall. Es gibt kaum etwas Amerikanischeres als Trump.

Eine Figur wie Trump ist in genau demjenigen durch und durch amerikanischen Milieu groß geworden und von ihm geprägt worden, das von westlichen Journalisten zumeist glorifiziert, selten ernsthaft in Frage gestellt wurde: in der Schicht des freien, erfolgreichen, tüchtigen Unternehmertums. Sein – angeblich auch von Psychiatern bestätigter – Narzissmus und sein Größenwahnsinn sind alles andere als sein persönlicher Defekt, sondern die durchaus durchschnittliche und quasi überlebensnotwendige Grundeinstellung in dieser für Amerika maßgeblichen gesellschaftlichen Klasse. Ein Grund dafür aber, dass auch unter den sogenannten einfachen Leuten Trump so viel Widerhall findet, liegt darin, dass sein Lebensweg und der seines Vaters so sehr dem klassischen American Dream entsprechen, dass er gleichfalls für den unterprivilegierten Amerikaner, der auf Erfolg hofft, als Vorbild fungieren kann. Dass Trump sich oft als erfolgreicher dargestellt hat, als er wirklich war, steht auf einem anderen Blatt.

Trump ist auf eine durch und durch amerikanische Weise groß geworden und ihm wurden durch und durch amerikanische Werte vermittelt. Das heißt, er ist in einer Welt groß geworden, in der vor allem eins zählt: Geld, Geld und noch mal Geld. Und in der insbesondere das eigene Ego und der eigene Erfolg über allem steht.

Das ist das Amerika, das Trump hervorgebracht hat, das ist das Amerika, dem er entstammt, und das ist das Amerika, wie es immer schon war – und darum stellt seine Präsidentschaft auch alles andere als einen Bruch mit der bisherigen Tradition dar. Stattdessen verkörpert er die amerikanische Nation ganz im Gegenteil reiner und unverstellter als alle Präsidenten zuvor, die zwar denselben Interessen dienten, aber zwecks Heuchelei und Propaganda immer auch ihre Reden von Demokratie und Menschenrechten führten – um ihre militärischen Operationen zu rechtfertigen, in denen es in Wahrheit darum ging, sich widerständige Märkte gefügig zu machen.

Trump ist kein Bruch zu Amerika. Viel mehr ist er der Inbegriff Amerikas.
Foto:APA/AFP/MANDEL NGAN

Weg vom Personifizieren

Es ist geradezu erstaunlich, dass nirgendwo von den politischen Kommentatoren dieser ganz offensichtliche Zusammenhang zwischen uramerikanischen gesellschaftlichen Prinzipien und der gar nicht sonderbaren, sondern höchst durchschnittlichen Persönlichkeit Trumps thematisiert wird. Vielleicht liegt es daran, dass man dann zu viel vom eigenen Weltbild in Frage stellen müsste, wenn man das täte.

Stattdessen machen Journalisten und Leitartikelschreiber das, was sie immer gerne tun: Sie personifizieren das Übel. Anstatt die Figur Trumps gesellschaftlich zu erklären, anstatt zu sehen, dass er auch nur das Produkt seiner Gesellschaft ist, in der er lebt, werden seine Charakterzüge und sein Benehmen als sein individueller Defekt ausgelegt. Die Berufung auf psychiatrische Diagnosen ist dafür das Beispiel par excellence. Wo man zur politischen Analyse und zur Gesellschaftskritik unfähig und sehr wahrscheinlich auch unwillig ist, da ruft man den Irrenarzt her.

Die Fratze der freien Marktwirtschaft

Dabei ist an Trump nichts individuell oder persönlich. Wenn er etwa fortwährend in seinen Wortmeldungen die Floskel "to make a good deal"  strapaziert, dann mag das zwar oft eigentümlich wirken, tatsächlich kommen dabei aber nicht nur uramerikanische, sondern vor allem auch urkapitalistische Tugenden zum Ausdruck. Wirklich auch ist Trumps Lebensphilosophie nichts anderes als ein Spiegelbild der kapitalistischen Welt, in der er groß geworden ist, er ist die Fratze der freien Marktwirtschaft. Darin erschöpft sich demzufolge auch sein Verständnis von Politik.

Dasselbe gilt für die ganze Sprache und Selbstinszenierung des amerikanischen Präsidenten. Man mag sein Auftreten albern und simpel finden, aber wer erkennt hier nicht den Widerhall der einfältigen und oft inkohärenten Sprücheklopferei, die in den Chefetagen unserer Welt nicht nur üblich, sondern geradezu erforderlich ist, wenn man sich durchsetzen und nach oben kommen will? In der Tat, so wie Trump verhalten sich viele Führungspersönlichkeiten unserer Gesellschaft, und häufig werden sie sogar von Kommunikationsberatern geradezu darauf getrimmt, sich so zu benehmen.

Was zählt, ist schließlich nur, damit Erfolg zu haben und der Stärkere zu sein. Wie denn auch Trumps vollkommene Selbstüberschätzung nur das logische Resultat einer sozialdarwinistisch funktionierenden Ellbogenschaft darstellt, in der alles als richtig, gescheit und intelligent gilt, solange es Erfolg hat. Soll er sich nicht für den Fähigsten, Intelligentesten und Tüchtigsten halten, wo ihm sein Reichtum doch recht gibt?

Hinter der Maske

Trump ist also nicht etwas, was so ganz anders wäre, als es die USA bisher waren. Ganz im Gegenteil. Trump als Präsident ist nur nicht kein Gegensatz zu den bisherigen USA, er ist vielmehr aus diesen hervorgegangen und von diesen groß gemacht worden. Man könnte sogar so weit gehen und sagen: Trump ist das Wesen Amerikas, immer schon gewesen, das jetzt nur ungeniert zum Vorschein kommt, die Maske fallen lässt. In Trump hat Amerika erst zu sich gefunden.

Hört endlich auf, die USA zu verklären!

Womit wir wieder beim Anfang sind: In der Tat muss es für all jene, die ihr Leben lang ein idealisiertes Bild der USA in sich herumgetragen haben, ein tiefer Schock sein, dass da etwas zum Vorschein kommt, von dem sie nicht glauben können, dass das Amerika sein kann.Auch schon vor Trump haben diese Träumer über vieles hinweggesehen müssen, um sich die Vereinigten Staaten als Hort der Demokratie und Menschenrechte zurechtzuzimmern.

Beispielsweise darüber, dass es Pluralität in der hohen amerikanischen Politik stets nur in Dosen gegeben hat und einem die beiden einander am Schalthebel der Macht abwechselnden beiden großen Parteien immer nur so wie Tweedledum und Tweedledee vorgekommen sind – um hier ein Bonmot von Frank Zappa weiterzuführen. Oder darüber, dass in den Vereinigten Staaten immer dieselben Familien, Dynastien und Machtklüngel das Sagen haben.

Sieht man so etwas in Russland, so spricht man in einem kritischen Ton von "russischen Oligarchen". Und wir nehmen das dann als Beweis dafür, dass dort etwas nicht funktioniert, dafür, dass Russland eben noch keine richtige Demokratie ist. Warum aber sprechen wir es nicht genauso ehrlich aus, dass auch die USA nur der reinen Form nach eine Demokratie, in Wahrheit aber eine Oligarchie haben?

Dass sie durch Wahlen nicht viel ausrichten können, scheinen auch die Amerikaner sehr gut zu wissen. Denn das Land, das sich für den Inbegriff der Demokratie hält, zeichnet sich traditionell durch eine im internationalen Vergleich bemerkenswert niedrige Wahlbeteiligung aus – die freilich außerdem von einem rückständigen Wahlsystem begünstigt wird. Denn um überhaupt wählen zu können, muss man einiges an bürokratischen Hürden überwinden.

Auch sonst spricht nicht viel dafür, ausgerechnet die USA als Hort von Demokratie und Menschenrechten zu betrachten – ein Land, das einen gegen alle rechtsstaatlichen Prinzipien verstoßenden Drohnenkrieg führt, ein Land, das in Komplizenschaft mit den Briten 1953 den iranischen Premierminister Mossadegh stürzte, ein Land, das damit, genauso wie durch die massenmörderischen Kriege im Irak und in Afghanistan, den Grundstein für die Destabilisierung ganzer Regionen auf der Welt und den islamistischen Terrorismus legte, ein Land, das für die Gräuel von Vietnam genauso steht wie für den blutigen Zerfall Libyens, ein Land, das mehr oder weniger nach Gutdünken völkerrechtswidrig in fremde Länder einmarschiert und dort Menschen massakriert oder Leute finanziert, die das tun, ein Land, das als erstes westliches Land wieder die Folter salonfähig gemacht hat. Und so weiter und so fort.

Das Dilemma der Amerikatreuen

Das alles sind Fakten, die im Grunde jedermann bekannt sind oder sein können. Erstaunlich ist eher die Hartnäckigkeit, mit der jahrzehntelang darüber hinweggesehen wurde – und zumeist immer noch hinweggesehen wird. Den USA hat man immer alles verziehen – den Russen nichts. Denn eines kann man den politischen Kommentatoren des Westens sicherlich nicht vorwerfen: Unparteilichkeit.

Als sich etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – herausstellte, dass die Russen indirekt etwas mit dem versehentlichen Abschuss eines Passagierflugzeuges über der Ostukraine zu tun hatten, galt das natürlich als ein weiterer Beweis der Niederträchtigkeit Putins. Als allerdings die amerikanischen Streitkräfte gezielt ein Krankenhaus im afghanischen Kundus in Schutt und Asche legten, blieben selbstverständlich vergleichbare Reaktionen aus und wurden nicht annähernd ähnliche Schlussfolgerungen über den damals amtierenden amerikanischen Präsidenten, Barack Obama, gezogen. "Doppelstandards" nennt das die Medienkritik.

Warum nun ausgerechnet ein Präsident Trump, der zwar ein unberechenbarer Rüpel ist, aber bis jetzt immer noch wesentlich weniger Schlimmes als seine Vorgänger auf der Welt angerichtet hat, die bislang amerikatreuen politischen Kommentatoren plötzlich derart empört, ist angesichts dieser Faktenlage gar nicht so einfach zu begreifen.

Der Schock, den sie verspüren, mag wohl auch daher rühren, dass sie nun, angesichts eines solch allzu offensichtlich verhaltensauffälligen Amtsinhabers, nicht mehr so leicht, wie sie das bisher getan haben, jeden Amerikakritiker als "Anti-Amerikanisten" diffamieren können und in ihrer Aufteilung der Welt in Gut/Böse und Freund/Feind verunsichert sein müssen.

Die Erfindung der Vergangenheit

Ein Ausweg, der nun, allen Fakten entgegen, anscheinend benutzt wird: Anstatt zu begreifen, auf welche Weise Trumps ganzes Wesen tief in der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Geschichte verwurzelt ist, wird von vielen nun erst recht ein altes, ein besseres und natürlich ganz tolles und heroisches Vor-Trump-Amerika erfunden, das es so nie gegeben hat.

Offensichtlich wurde das im Rahmen des Begräbnisses des Republikaners John McCain vor wenigen Wochen, als dessen Tochter Meghan, mit einer für die Kultur der USA allerdings charakteristischen Pathetik, verkündete: "Wir sind zusammengekommen, um den Verlust amerikanischer Größe zu betrauern."

Schützenhilfe bekam sie dabei von anderen ehemaligen "Größen" Amerikas, von George W. Bush und Obama, die in das bizarre Lamento mit einstimmten. Und wieder wird auf die typisch amerikanische Weise personifiziert, glorifiziert und dämonisiert, anstatt dass gesellschaftliche Zusammenhänge verstanden werden: "POW McCain Hero – Trump Coward", hat ein Mann auf ein Poster gemalt. McCain ein Held, Trump ein Feigling.

Und – schwuppdiwupp! – posthum hat auf einmal ein Scharfmacher wie McCain – einer der "Falken", der ein Reagan-Anhänger war und den Irakkrieg befürwortet hat – sogar das Zeug, zum Helden und Liebkind linksliberaler Kommentatoren zu werden.

Wenn man sich allerdings auch von der Rührung kurzfristig blenden lässt, sollte man sich nachher doch wieder in Erinnerung rufen, dass es eine Kontinuität zwischen diesem alten Amerika und dem Trumps gibt - und dass es genau dieses alte Amerika ist, dass Trump hervorgebracht und groß gemacht hat, auch wenn nun die pensionierten Politiker sich verhalten wie ein Vater, der sein eigenes Kind nicht wiedererkennen will. (Ortwin Rosner, 9.10.2018)

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