Auf dem Hauptplatz von Banja Luka legen Demonstranten frische Blumen, Engel, Kuscheltiere, brennende Kerzen ab.

Foto: Adelheid Wölfl

Seit einem halben Jahr fordern sie die Aufklärung des ungeklärten Verbrechens an einem 21-jährigen Studenten.

Foto: Adelheid Wölfl

Vor seinem Foto liegen frische Blumen, Engel, Kuscheltiere, brennende Kerzen. Außerhalb des auf dem Boden aufgelegten Herz für David Dragičević auf dem Hauptplatz von Banja Luka, sind Fotos von hohen Beamten des bosnischen Landesteils Republika Srpska zu sehen. Die Demonstranten bezeugen ihre Missachtung für die Vertreter von Polizei, Justiz und Politik, in dem sie über die Fotos dieser Männer gehen.

PRAVDA ZA DAVIDA

"Lieber Sohn, mein Lieber, wir sind jetzt 180 Tage auf diesem Platz", so beginnt der Vater des toten 21-jährigen Studenten, Davor Dragičević seine Rede. Dann wendet er sich an die Menschen, die sich hier versammelt haben. Es sind Leute aller Altersgruppen, manche tragen T-Shirts auf denen "Gerechtigkeit für David" zu lesen ist und das Gesicht des jungen Mannes zu sehen ist. "Danke auch im Namen von David, dass Ihr gekommen seid", sagt der Vater. Kurz danach kehrt sich aber die Trauer um den Verlust seines Sohnes in eine flammende Anklage – die eine Stunde lang dauern wird. Davor Dragičević fordert nicht nur Genugtuung und die Verhaftung der Schuldigen. Er fordert noch viel mehr: Einen Systemwechsel.

Verfilztes System

Seit einem halben Jahr kommen jeden Tag um 18 Uhr etwa einhundert bis zweihundert Bosnier auf den Platz, der von ihnen nach David benannt wurde, um die Aufklärung des Todesfalls einzufordern. Ihr Zeichen ist die geballte Faust, für die in der Mitte des Platzes ein Monument errichtet wurde. Manche tragen Halsketten mit dem Antlitz des Jungen mit den Rasta-Locken, der als Toter zu einer Ikone des Widerstands gegen ein verfilztes, intransparentes System wurde.

David Dragičević verschwand in der Nacht vom 17. auf den 18. März, er war zuvor noch in einigen Lokalen gesehen worden. Am 24. März wurde er mit zahlreichen Wunden tot in einem Abwasserkanal mitten in der Stadt gefunden. Auf der Pressekonferenz der Behörden, die nach dem Fund des Toten einberufen wurde, wurde sowohl die falsche Todesursache (ein Unfall) angegeben, als auch widersprüchliche Angaben dazu gemacht, wie lang David im Wasser lag. David wurde außerdem kriminalisiert, ihm wurde unterstellt in besagter Nacht, einen Einbruch begangen zu haben, er wurde von den Behörden als Drogensüchtiger dargestellt, der LSD genommen habe.

Diskreditierungssversuche

All diese Versuche das Verbrechensopfer zu diskreditieren, stellten sich allerdings als falsch heraus. Die Mutter schnitt dem toten Sohn etwa eine Haarsträhne ab und ließ sie in Wien in einem Labor untersuchen – es stellte sich heraus, dass David kein LSD zu sich genommen hatte. Seine 13-jährige Schwester, die mit der Mutter in der Nähe von Wien lebt, ließ sich eine Haarsträhne ihres toten Bruders in die eigenen Locken flechten.

In den letzten Monaten kam es zu wiederholt Massendemonstrationen in Banja Luka, weil immer offensichtlicher wurde, dass die Behörden etwas vertuschen wollten. Völlig ungeklärt ist etwa, wo sich David aufhielt, bevor er Tage nach seinem Verschwinden zu Tode geprügelt wurde oder weshalb seine Unterwäsche verschwand und was die Polizei für ein Motiv hatte, das Verbrechen nicht klar zu benennen. Der Vater glaubt, dass Beamte selbst involviert sind. Möglich wäre auch, dass Mitglieder oder Bekannte von einflussreichen Familien oder Persönlichkeiten in den Fall verstrickt sind.

Videoaufnahmen gelöscht

Sicher ist, dass geschlampt wurde: So wurden Videoaufnahmen von öffentlichen Plätzen, von jener Nacht, in der David verschwand, einfach gelöscht, obwohl wichtige Zeugen identifiziert werden hätten können. Die Mutter von David, Suzana Radanović wirkt zerbrechlich und doch kämpferisch. Radanović wirft den Verantwortlichen in Polizei, Justiz und Politik vor, nur an Geld interessiert zu sein. Auch der Präsident des bosnischen Landesteils Republika Srpska Milorad Dodik wird heftig kritisiert.

Die Eltern sind sauer auf ihn. Denn Dodik hatte in einem Fernseh-Interview von einer "besonderen" Familie gesprochen und indirekt Verantwortung auf die Mutter geschoben, weil diese sich von ihrem Mann vor ein paar Jahren getrennt hatte. Der Präsident lobte sich derweilen in dem Interview selbst als Vater. Besonders wütend macht die Eltern, dass Dodik sagte, Vater Dragičević könne mit seinen verbliebenen Kindern das Fest des Familienheiligen feiern, weil dieser zuvor gemeint habe, er könne das Fest nach dem Tod seines Sohnes nicht mehr feiern.

"Wir gehen bis zum Ende"

Die Demonstranten skandieren in Sprechchören: "Gerechtigkeit für David", "Wer hat David ermordet?", "Wir gehen bis zum Ende!" oder "Mörder! Mörder!". Wenn jene Medien genannt werden, die unter Dodiks Kontrolle stehen, folgen Buhrufe.

Der Fall David Dragičević ist längst zu einem Politikum geworden. Am 7. Oktober wählen die Bosnier ein neues Parlament, drei neue Staatspräsidenten und die Lokalverwaltungen. Auch der Vater will das nutzen, um davor Druck zu erzeugen. Vergangene Woche wurde ein Mann festgenommen, der Beweise im Mordfall Dragičević manipuliert haben soll. Doch dem Vater ist diese Verhaftung nicht genug. "Bis 25. September müssen alle verhaftet sein, die mit dem Fall zu tun haben", setzt er ein Ultimatum. "Wenn das nicht passiert, wird es keine Wahlen geben", meint er, ohne genau zu erklären, was er vor hat. "Ich habe kein Problem zu sterben", fügt er hinzu.

Er sorgt sich aber, dass Provokateure Gewalt unter den Demonstranten anzetteln könnten. "Wenn diese Leute glauben, sie können mich töten wie meinen Sohn, dann irren sie sich", sagt er. "Sie versuchen Unruhe zu stiften und so zu tun als wären wir Terroristen. Sie versuchen uns zu kriminalisieren und die Schuld auf die Demonstranten zu schieben", warnt er vor einer Eskalation.

"Es sieht so aus, als ob ich nicht weit kommen werde"

Wenn er davon spricht, dass es gelte die "Faschisten" zu bekämpfen, so folgt er einem alten Widerstands-Motiv im ehemaligen Jugoslawien, das auch für die älteren Menschen, die zahlreich zu den Demos kommen, eine tiefe Bedeutung hat. Sogar die Pensionisten auf dem Krajina-Platz haben wegen David einen Rap-Song auswendig gelernt. In dem Lied "Ein Kind im Ghetto", das er selbst komponiert hat, dichtete David: "Es sieht so aus, als ob ich nicht weit kommen werde, weil ich wie eine Schachfigur in diese Geschichte reingehe." Wenn die Demonstranten ihre Fäuste ballen, ist es so als würden Davids Worte ein Ausdruck ihrer eigenen Ohnmacht geworden sein, die sich verdichtet und einen Kanal gefunden hat.

"Wer auch immer ihn ermordet hat, jetzt haben diese Leute jedenfalls mehr Angst, aufgedeckt zu werden", analysiert Davids beste Freundin, die 21-jährige Studentin Dajana. "Die haben nicht erwartet, dass wir solange durchhalten", meint sie. Sie beschreibt David als einen jungen Mann, der nicht in das rigide System gepasst hatte, einer der oft wegen seiner Rasta-Locken von der Polizei angehalten wurde, einer der den Beamten ins Gesicht schaute, wenn sie ihn ansprachen, einer der dagegen redete, einer, dessen Lustigkeit und Unbekümmertheit auffiel. "Er war auf eine Art furchtlos", erzählt Dajana. "Das war wohl einer der Gründe, weshalb er ermordet wurde."

Journalist zusammengeprügelt

Dajana hat seit seinem Tod Angst alleine rauszugehen. Tatsächlich wurde Ende August der Journalist Vladimir Kovačević auf offener Strasse zusammengeprügelt – er arbeitet für den Sender BN, der der Opposition nahe steht und regelmässig über den Fall Dragičević berichtet.

Gewalt gegen Journalisten ist nur eines der vielen Probleme in Bosnien-Herzegowina. Es fehlt an einer unabhängigen Justiz. "Rechtsstaatlichkeit und das Funktionieren der Justiz sind nach wie vor eine entscheidende Schwachstelle", heißt es im letzten Bericht der EU-Kommission. Die Polizei und das Justizsystem sind von Interessen von einflussreichen Familien und Parteien unterlaufen. Viele Fälle werden nicht aufgeklärt oder im Interesse dieser Gruppen interpretiert. Auch die Polizei steht unter dem Einfluss dieser Netzwerke, teilweise arbeiten in den Sicherheitsstrukturen noch Leute, die mit den Verbrechen in den Kriegsjahren in Verbindung stehen. Erstmals sprach die Kommission heuer von "state capture" also der "Unterwanderung des Staates".

Hoffnung auf Hilfe

Zu den Demonstranten hat sich am 180. Tag auch der bosnische Außenminister Igor Crnadak gesellt. Er gehört zur Oppositionspartei PDP. Beim Besuch des russischen Außenminister Sergej Lavrov hat Crnadak diesem einen Brief zum Fall Dragičević übergeben. Die Demonstranten hoffen auf Unterstützung aus dem Ausland oder von internationalen Organisationen – auch weil sie um ihre eigene Sicherheit fürchten. (Adelheid Wölfl aus Banja Luka, 25.9.2018)