Wien – Vergangenen Dienstag sickerte infolge einer Indiskretion voreilig durch, dass Christian Kern als SPÖ-Chef zurücktreten wird. Viele Freunde hat er sich unter den Genossen damit nicht gemacht. Ein Gespräch am Ende einer turbulenten Woche.

STANDARD: Jeder hätte es verstanden, wenn Sie nach der Nationalratswahl im Oktober hingeschmissen hätten. Warum nicht damals?

Kern: Nach der Wahl waren noch einige harte Entscheidungen zu treffen. Das Personal betreffend, der Parteiprogrammprozess und das Migrationspapier mussten abgeschlossen werden. Damit ist eine Basis geschaffen für die weitere Arbeit. Dazu kommt, dass sich gezeigt hat, dass wir mit Rendi-Wagner jemanden haben, der die Aufgabe hervorragend machen kann und der bereit ist, das zu übernehmen.

"Von Selbstinthronisierung kann keine Rede sein", sagt Christian Kern über seine EU-Kandidatur. "Das entscheidet natürlich der Parteivorstand."
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STANDARD: Ihre Kritiker fühlen sich jetzt bestätigt, dass Sie ein Flip-Flopper und somit nicht für die Spitzenpolitik geeignet sind?

Kern: Die Problematik ist: Mit Rücktrittsüberlegungen kann man nicht an die Öffentlichkeit gehen. Das wäre, wie wenn man mit einer blutigen Zehe ins Haifischbecken steigt. Die Frage ist auch, woran man Politik misst. Für mich ist nicht die Schlüssellochperspektive entscheidend, sondern die Frage, was besser und was schlechter geworden ist. Ich habe die Partei bei 20 Prozent übernommen, bei der Wahl haben wir 27 bekommen. Die jüngsten Umfragen waren noch besser. Alles, was ich in meiner Antrittsrede gesagt habe, wurde minutiös abgearbeitet. Daran können fünf Stunden eines Nachmittags nichts ändern.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass Sie nicht der ideale Oppositionschef seien, weil Sie nicht mit dem Bihänder unterwegs sind. Ist der Bihänder das politische Werkzeug von Pamela Rendi-Wagner?

Kern: Mit Verlaub: Diejenigen, die jetzt über meine Formulierung die Nase rümpfen, interessieren sich Nüsse für differenzierte Inhalte. Unsere Konzepte zu Pflege, Digitalisierung oder CO2 fanden wir bestenfalls im Kleingedruckten der Zeitungen wieder. Politik lebt von Zuspitzung. Rendi-Wagner wird diese Aufgabe in ihrem Team abbilden, weil sie selbst zum Glück nicht dazu neigt.

Kern hofft auf Platz zwei für die europäischen Sozialdemokraten.
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STANDARD: Aber Sie haben Rendi-Wagner den schwerstmöglichen Einstieg verschafft, oder?

Kern: Ich habe mit anderen mitgeholfen, dass es überhaupt zum Einstieg kam. Ihre Inthronisierung ist sehr schnell gegangen. Als ich damals Werner Faymann nachgefolgt bin, hat das deutlich länger gedauert. Ich halte auch nichts davon zu sagen, dass sie zu kurz Parteimitglied ist. Ich behaupte: Das kann ein Vorteil sein, weil es ein Zeichen für Öffnung und Modernisierung ist.

STANDARD: Wiens Bürgermeister Michael Ludwig muss offenbar erst von den Fähigkeiten Rendi-Wagners überzeugt werden. Er war nicht gerade euphorisch.

Kern: Den Eindruck habe ich nicht. Wir müssen ein Angebot für unsere potenziellen Wähler machen und nicht eines, das in überschaubaren Parteikreisen funktioniert. Wenn wir anfangen, uns selbst zu genügen, dann kommen wir dort zu liegen, wo wir bei der Bundespräsidentenwahl gestrandet sind. Eine Sozialdemokratie, die es nicht schafft, sich zu öffnen, ist im Jahr 2018 dem Untergang geweiht.

STANDARD: Es gab Kritik daran, dass Sie sich quasi selbst als EU-Spitzenkandidat nominiert haben. Würden Sie es verstehen, wenn Rendi-Wagner auf Ihren Vorschlag verzichten würde?

Kern: Selbstverständlich habe ich ihr das Angebot gemacht, über alle Funktionen zu entscheiden. Von Selbstinthronisierung kann aber keine Rede sein. Das entscheidet natürlich der Parteivorstand.

STANDARD: Wen würden Sie sich auf der EU-Liste wünschen? Ist Evelyn Regner auf Platz zwei gesetzt?

Kern: Wir haben eine Reihe hochkompetenter Leute, Evelyn Regner gehört sicher dazu. Aber all das wird jetzt zu diskutieren sein. Worum es mir geht: Es gibt Kräfte, die massiv gegen das europäische Erbe auftreten, Trump von außen, die Salvinis von innen. Es geht um die Auseinandersetzung: Demokratie, Pressefreiheit, Akzeptieren der Menschenrechtskonvention auf der einen Seite und ein Europa, das nur Wirtschaftsinteressen dient, auf der anderen.

STANDARD: Warum mussten Sie einen Tag nachdenken, ob Sie auch ins EU-Parlament gehen, wenn Sie nicht EU-weit Spitzenkandidat der Sozialdemokraten werden?

Kern: Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Rendi-Wagner mitreden muss, wer kandidiert.

STANDARD: Sie würden also jedenfalls die gesamte Periode in Brüssel bleiben, auch wenn Sie keinen Top-Posten wie Kommissionspräsident oder Ratsvorsitzender bekommen?

Kern: Klar, das hat nichts mit Top-Posten zu tun.

STANDARD: Was ist Ihr Wahlziel? Beten und auf Platz eins hoffen?

Kern: Es wäre gut, wenn wir das europäisch sehen. Es ist wichtig, dass die Sozialdemokratie europaweit Platz zwei absichert. Man wird aber auch überlegen müssen, in welchen Bündnissen man das tut. Wir müssen das inhaltliche und personelle Angebot verbreitern, um eine wirksame Allianz gegen die Rechtspopulisten und ihre Wasserträger zu bilden. Da ist es wichtig, über bisherige Fraktionsgrenzen hinauszudenken.

STANDARD: Also ein formelles Bündnis mit den Liberalen oder mit Macron in Frankreich?

Kern: Über ein Bündnis mit Macron muss man genauso ernsthaft nachdenken wie mit Alexis Tsipras und anderen. Wichtiger ist aber, eine inhaltliche Plattform, zu der sich alle bekennen können, die Europa nicht Salvini und Orbán überlassen wollen.

STANDARD: Wird der EU-Wahlkampf die Mutter der Wahlschlachten? Auch finanziell?

Kern: Er wird es emotional, aber sicher nicht materiell sein.

STANDARD: Was bleibt vom Innenpolitiker Christian Kern?

Kern: Mit Verlaub, aber meine Regierung war schon direkt daran beteiligt, dass Österreich einen Jobrekord hat, die meisten Betriebsansiedlungen aller Zeiten, Investitionen auf Rekordniveau, die Abschaffung des Pflegeregresses, der Ausbau der Ganztagsschulen und die Ausbildungsgarantie für Jugendliche bis 25 und noch viele andere Dinge mehr. Fakt ist: Nach zehn Jahren sozialdemokratischer Politik, da schließe ich Werner Faymann ganz dezidiert und wesentlich ein, steht Österreich deutlich besser da als vorher, und ich bin stolz darauf, einen Beitrag geleistet zu haben. (Günther Oswald, 25.9.2018)