Braucht es Nahversorger in Ortszentren?

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Wien – Österreichs Lebensmittelhandel wehrt sich gegen das Korsett der Raumordnung. Die Branche darf sich in vielen Bundesländern nicht oder nur eingeschränkt außerhalb von Ortskernen neu ansiedeln. Ihre Verkaufsflächen sind gesetzlich limitiert. Ziel der Politik war es, den Verlust an Nahversorgern in den Innenstädten angesichts neuer großer Einkaufszentren auf der grünen Wiese zu bremsen.

Die Stärkung der Zentren mit Mitteln der Raumordnung scheiterte, sagt Michael Mayrhofer, Professor für Verwaltungsrecht an der Uni Linz. "Den kleinen Kaufmann ums Eck, der damit geschützt werden sollte, gibt es nicht mehr." Es sei auch Illusion zu glauben, dass dieser je wieder zurückkehre.

Aus seiner Sicht haben die aktuellen Regelungen, die über Größe und Lage der Standorte bestimmen, nichts mehr mit der Realität der Supermärkte gemein. Eingekauft werde heute primär mit dem Auto. Lebensmittelketten benötigten für eine Filiale eine Fläche von mindestens 1.000 Quadratmetern. Beides ließe sich in dicht verbauten Ortszentren nicht realisieren.

Vorteil für Onlinehandel

Rainer Will, Chef des Handelsverbands, fordert eine Lockerung der Flächenwidmung – zumal die Bestehende den Onlinehandel befeuere, wie er warnt. Für diese halte die Raumordnung keine Limits bereit: Auslieferungslager dürften nämlich überall gebaut werden.

Der Volkswirtschafter Friedrich Schneider hat für den Verband die finanziellen Effekte errechnet, die mehr Spielraum bei der Standortwahl bringen würde. Seiner Studie zufolge, ließen sich damit Kosten im Lebensmittelhandel um gut 400 Millionen Euro senken. Höherer Konsum würde eine zusätzliche Bruttowertschöpfung von 500 Millionen und eine Lohnsumme von bis zu 256 Millionen Euro ermöglichen. Schneider stellt bis zu 6.800 neue Jobs in Aussicht, 2.000 allein im Handel.

Voraussetzung dafür sei, dass sich Österreich auf einheitliche Standards für idealtypische Standorte durchringt. Bisher pflegt in der Raumordnung jedes Bundesland eigene Regeln.

Verfassungswidrige Beschränkung?

Mayrhofer hält die bestehenden Restriktionen der Raumordnung für verfassungswidrig, da sie alle einst definierten Ziele nicht mehr erreichten. Dass lockerere Regeln der ohnehin schon großflächigen Versiegelung von Grund und Boden weiter Vorschub leistet, lässt Schneider bedingt gelten. "Es ist ein Problem." Er appelliert daran, zukünftig vermehrt auch leer stehende Gebäude zu nutzen.

Hannes Lindner, Chef des Beraters Standort+Markt, sieht den Föderalismus in der Raumordnung gespalten. "Ich begrüße es nicht, verstehe es aber." Der Umgang mit Grund und Boden sei von elementarer Bedeutung, eine Kernkompetenz, die keiner gern aus der Hand gebe. "Denn sind Flächen einmal versiegelt, ist das kaum mehr reversibel."

Ebenso verständlich aber sei, dass Lebensmittelketten auf 600 Quadratmetern mittlerweile wenig Auslangen finden. "Die Zahl der Lebensmittelprodukte hat sich in den vergangenen zehn Jahren stark erhöht. Supermärkte und Diskonter platzen aus allen Nähten." Lindner hält die Flächenerweiterung für notwendig, damit die bestehenden Lebensmittelhändler "die Rolle als Greißler 2.0" insbesondere in schwächer versorgten Regionen übernehmen und dem wachsenden Onlinehandel Paroli bieten könnten. Sie seien in ländlichen Regionen oft die einzige umfassende Angebotsquelle für Konsumenten.

Rewe, Spar, Hofer und Lidl haben ihr Filialnetz in Österreich in den vergangenen zehn Jahren rasant erweitert und decken gut 90 Prozent des gesamten Lebensmittelhandels ab. Kein Land in Europa hat eine höhere Supermarktfläche pro Einwohner als Österreich. (Verena Kainrath, 27.9.2018)