Es kommt halt auch drauf an, wer etwas wie und wann sagt. Und weil ich weiß, wer Jean-Marie Welbes ist und wie er es meint, war es okay: Chicago hieße jetzt wohl Chicarun, hatte Welbes, Kopf der donnerstäglichen Frühlauftreffs in Schönbrunn, angesichts eines der ersten Fotos aus Chicago geflachst.

Und obwohl Eva den Wiener Luxenburger nicht kennt, war auch für sie der Unterschied zwischen Zote und Wortspiel hier klar – und sie lachte: "Im Kontext ist es okay."

Foto: thomas rottenberg

Denn der Kontext war eindeutig: Wir waren nach Chicago geflogen, um zu laufen. Für Eva sollte es der erste Marathon werden. Ein Traumlauf auf einer Traumstrecke in einer mehr als nur leiwanden Stadt.

Ein Lauf, der – aber das wussten wir noch nicht, als Welbes uns dieses Chicarun nachschickte – genau so werden würde, wie Evas Weg hierher: eine wilde Hochschaubahnfahrt, bei der es unterwegs alles andere als sicher ist, dass man am Ende aussteigt, sich ein bissi wackelig fühlt, aber trotzdem lacht.

Die Vorgeschichte habe ich in den letzten Wochen hier skizziert. Darum springe ich zum Lauf selbst: Der Chicago-Marathon ist einer der ganz großen Marathons. Er fand 1977 zum ersten Mal statt. Eine Startnummer kostete fünf Dollar. Damals kamen 2.128 Läuferinnen und Läufer ins Ziel.

2017 traten hier 46.500 Läuferinnen und Läufer an, 44.341 kamen durch. Damit ist Chicago hinter New York (50.773 Finisher und -innen 2017) und vor Paris (42.513 im Jahr 2018) der zweitgrößte 42-Kilometer-Lauf der Welt.

Foto: thomas rottenberg

Mit 48 Prozent Frauenanteil ist Chicago der weiblichste große Longjog (Boston: 45 Prozent; New York 41 Prozent). Mit einer "Ausländerquote" von 27 Prozent liegt er deutlich hinter New York (45 Prozent) und Berlin (59 Prozent), aber weit vor Boston, Tokio und London (23, 18 und 12 Prozent).

Chicago gehört zu den Marathon Majors, also den Big Six, die auf der Bucketlist einer immer größer werdenden internationalen Marathon-Reiseszene ganz oben stehen: New York, Boston, Chicago, Berlin, London und Tokio. Paris ist zwar auch riesig und toll, aber eben keiner der Majors.

Wien, das nur der Vollständigkeit halber, spielt hier nicht einmal eine Nebenrolle: Auch wenn der VCM Teilnehmerzahlen jenseits der 30.000 kommuniziert, gilt es auf ein Detail zu achten. Wien sagt ganz bewusst "Marathonveranstaltung": Nur 6.000 der 30.000 laufen tatsächlich 42 Kilometer.

Foto: thomas rottenberg

Um einen Major zu laufen, sollte man schnell sein. Startplätze sind heißumkämpft, also gibt es Qualifikationszeiten. Meine Bestzeit liegt bei 3:27 – zu langsam, um Limits zu schaffen. Bei den Startplatzlotterien, die es fast überall gibt, ist mir das Ergebnis zu unsicher – insbesondere wenn ich nicht allein laufen will. Deshalb nehme ich jenen Ausweg, den auch der Großteil der übrigen Marathontouristen wählt: Marathon-Reiseanbieter. Die haben, nach Länderquoten zugeteilt, fixe Startplätze für jedermann und jederfrau und den Vorteil, dass man ein Komplettpaket bucht, bei dem man nur eines noch selbst tun muss: laufen.

Foto: thomas rottenberg

Wirklich teurer als Selbstorganisieren ist das nicht: In Chicago trafen wir Jochen Gold, einen der 46 Österreicher, die heuer in Chicago antraten. Gold hatte in der Lotterie gewonnen und seinen Trip selbst organisiert. Flug, Hotel, Startplatz, Transfer, Mahlzeiten und Co ergaben aber ziemlich genau den Preis, den man auch bei Reiseveranstaltern zahlt. Wieso? Die Reisebüros buchen oft schon ein Jahr vorab Hotels und Flüge und größere Kontingente – und bekommen deshalb andere Preise.

Foto: thomas rottenberg

Natürlich ist es grotesk, tausende Kilometer zu fliegen, um 42 Kilometer zu Fuß zu gehen. Aber ist das bei Kultur- oder Shoppingtrips grundsätzlich anders? Die Klima- und Sinnfrage zu stellen ist legitim. Doch dann müsste jede Form des touristischen Reisens infrage gestellt werden. Und ich gebe offen zu: Ich reise gern. Weil die Welt ein spannender Ort ist – und noch spannender wird, wenn man beim Reisen tun kann, was Spaß macht.

Egal ob das Laufen, Restaurant- oder Museumsbesuche oder Hochkultur ist: Ein Lauf durch Chicago ist für mich so einmalig, wie für Opernfreaks ein Abend in der Met, in dem Klassik-Nichtversteher nur "irgendeine Oper" sehen. Nichtläufer fragten mich schon, wieso ich nicht die Donauinsel rauf- und runterlaufe, sind ja auch 42k. Das war nicht einmal böse oder zynisch gemeint.

Foto: thomas rottenberg

Blöderweise sieht man auf der Donauinsel die falsche Skyline. Nix gegen den DC-Tower, aber Chicago spielt in einer anderen Liga. Und nur Anreise – Marathon – Abreise ist es ja auch nicht: So wie der Kulturreisende sich rund um den Opernabend Sideevents, Museen und Sightseeing gruppiert, machen wir es ja auch.

Und nach zehn Stunden im Flieger wollen die Beine bewegt und die Lungen durchgelüftet werden: Wer öfter läuft, bleibt länger.

Foto: thomas rottenberg

Für den regionalen Tourismus ist das von zentraler Bedeutung: Durchschnittlich bleibt ein Laufgast 3,8 Nächte. Berlins Touristiker errechneten, dass pro Läufer oder Läuferin zwei Supporter kommen.

Große Laufevents sichern deshalb meist die Nebensaison: 2016 ließ der durchschnittliche Marathontourist 253 Dollar in Chicago, pro Tag. Die regionale Wertschöpfung rund um das Wochenende wird mit über 300 Millionen Dollar angegeben.

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Was viel zum längeren Aufenthalt beiträgt, ist das Heranlocken schon vor dem Ereignis: Natürlich läuft man unmittelbar vor einem Marathon keinen "harten" Event, aber einlaufen geht. Der "dash to the finish line" in New York – vom UN-Hauptquartier in den Central Park – ist ein Klassiker. Auch Boston hat einen Vorlauf. Und in Chicago hat sich der 5k am Samstag mittlerweile etabliert.

Der Haken an der Sache war weniger die Startzeit (7:30 Uhr) als das Wetter: Es goss in Strömen. Nur: Die Prognose für Sonntag war noch schlechter. Also Augen zu und durch.

Foto: thomas rottenberg

Start des 5k ist bei der Picasso-Statue innerhalb des "Loops". Wegen des Regens, der knapp vor halb acht dann aber eh aufhörte, verzögerte sich alles: Um Handbikern und Rollifahrern eine sichere Fahrt zu ermöglichen, wurden die größten Lacken von der Strecke geputzt. Amerikaner sind geduldige Schlangesteher und befolgen noch die skurrilste Anweisung geradezu grotesk obrigkeitshörig. In solchen Situationen ist das ein Segen: Niemand murrte, und als es endlich losging, drängelte keiner – außer ein paar Europäern.

Die Route führte quer durch die Stadt, unterhalb der Hochbahn, über die Boulevards, über Brücken und durch die Hochhausschluchten. Vorbei an etlichen Sehenswürdigkeiten zum Grand Park – dort, wo am Sonntag dann Start und Ziel sein würden.

Foto: thomas rottenberg

Wir waren es gemütlich angegangen. Erstens sowieso, zweitens ist es keine gute Idee, sich am Tag vor einer Langdistanz "abzuschießen". Und drittens hatte sich nach dem Regen in den Häuserschluchten eine fast tropische Dampfglocke gebildet: Wir hatten tags zuvor die Spitzen der Wolkenkratzer kein einziges Mal gesehen.

Der Nebel hing auch jetzt tief, aber von oben heizte die Sonne drauf. Morgen, wussten wir, würde das anders sein. Ganz anders.

Foto: thomas rottenberg

Sonntag. Raceday. Habe ich erwähnt, dass in den USA Regeln wichtig sind, Flexibilität oder Eigenverantwortung aber direkt in die Hölle führen? Man ist gegenüber Kunden und Gästen unendlich höflich und freundlich, aber ein Anliegen, das drei Millimeter neben der Vorschrift liegt oder gar eine eigene Entscheidung bedingen würde, ist eine unüberwindliche Hürde.

Zum Beispiel bei den Startblöcken: Bei der Anmeldung gilt es, die eigene Marathon-PB anzugeben. Meine 3:27 sind Block C. Eva ist noch nie einen Marathon gelaufen, wäre also weit hinten eingereiht worden. Zu Recht. Um gemeinsam zu starten (und um unser Gepäck an einem Ort zu haben), hatte ich in einer Mail gebeten, in Evas Block gestellt zu werden: Irgendein Irrer platzierte sie daraufhin in Block C.

Foto: thomas rottenberg

In Europa wäre das egal: Nach hinten, in einen langsameren Block, darf man sich eigentlich immer stellen. Aber: Versuchen Sie mal, einem US-Race-Steward zu erklären, dass Sie von C nach F oder G wollen. "Oh, it is really great to have you here! But sorry, these are the rules. We have orders."

Wir zwickten uns also in unserem Block ganz nach hinten und an den Rand – und waren, als es losging, natürlich trotzdem im Weg.

Foto: thomas rottenberg

Knapp hinter uns drückten nämlich die 3:30er-Läufer von Block D aufs Gas. 5.000 Nasen, die in einer Stampede links und rechts vorbeipressen.

Sich nicht mitziehen, aber auch nicht überrennen zu lassen, ist nicht ganz einfach. Pacehalten wird da richtig schwer. Erst recht, wenn das GPS in den Hochhausschluchten mit ihren verspiegelten Glaswänden Spaßwerte anzeigt.

Aber egal: Alter Schwede, war das eine eindrucksvolle Kulisse!

Foto: thomas rottenberg

Eva hatte aus einem anderen Grund einen schlechten Start. Weniger weil das permanente Überholtwerden demoralisierend ist, sondern weil sich in der Nacht eine alte Fußverletzung wieder gemeldet hatte: Vor einigen Jahren ist ihr ein Auto über den Fuß gefahren.

Wenn das Wetter umschlägt, erinnern sie Nerv, Mittelfußknochen und Sprunggelenk sehr deutlich an den Unfall. Habe ich erwähnt, dass es am Samstag schwül und heute frisch war?

Foto: thomas rottenberg

"Ich werde nicht durchkommen." Diesen Satz wollte ich nicht hören, schon gar nicht auf den ersten Kilometern. Was sagt man seinem Lieblingsmenschen, wenn man genau weiß, dass das keine eingebildeten Schmerzen sind und es keine Garantie gibt, dass das durchs Warm- oder Drüberlaufen besser wird? Manchmal funktioniert es, aber nicht immer. "Es fühlt sich an, als wäre der Mittelfußknochen gebrochen." So war das nicht geplant. Wirklich nicht. Ich sah zu Eva: "Sollen wir aussteigen? Ohne dich renn ich nicht."

Natürlich ist das emotional blackmail. Aber was wirkt, gilt: Eva biss die Zähne zusammen – und rannte. "He, runter vom Gas! Wir wollen nur durchkommen, nicht gewinnen!" – "Lass mich in Ruhe." Ich kenne meine Freundin: Wenn sie mich so anfährt, ist zwar nichts in Ordnung, aber sie kämpft. Und dass das kein leichter Stunt werden würde, hatten wir beide vorher gewusst.

Foto: thomas rottenberg

Von der Strecke, wusste ich, würde Eva jetzt nicht viel mitbekommen. Schade. Jammerschade. Denn das ist einer der Gründe für mich, Stadtmarathons zu lieben: Man erlebt Städte centerstage-autofrei. Die freien Straßen und die Blicke, die sich da ergeben, sind nur ein Teil des Erlebnisses: Gerade US-Städte, aber auch Metropolen in Europa klingen – no na – plötzlich ganz anders. Von der Luft rede ich gar nicht. Dass die in Wien am Tag des Marathons besser als an jedem anderen Tag im Jahr ist, ist einer der ältesten Stehsätze zu diesem Thema.

In jedem Fall: Chicago zu laufen ist schön. Wunderschön.

Foto: thomas rottenberg

Aber ich gebe zu: Ich hatte dafür anfangs nicht viele Gedanken. Nicht nur, weil ich mir Sorgen um Eva machte, sondern auch, und vor allem, wegen des Wetters.

Das war nämlich genau so, wie es in den Wettervorhersagen geheißen hatte: Es goss immer wieder in Strömen.

Foto: thomas rottenberg

Das wär nicht weiter schlimm gewesen, hätte der Wind nicht nach jedem Guss den Beweis angetreten, dass Chicago den Spitznamen Windy City nicht von ungefähr trägt: Waschelnass zu laufen ist, solange man in Bewegung bleibt, selten wirklich ein Problem. Dabei vom Wind frontal ordentlich runtergekühlt zu werden auf Dauer schon.

Da hilft nur durchbeißen – oder abbrechen. Oder man sagt "Eh schon wurscht" und läuft gleich ohne Shirt.

Foto: thomas rottenberg

Der Regen kam und ging und kam … – und Eva kämpfte. Wir waren mittlerweile in den Außenbezirken unterwegs, statt Hochhäusern säumten Backsteinbauten den Weg. Das GPS funktionierte wieder. Ich hatte schon zuvor, als wir nur alle fünf K an Kilometertafeln vorbeigekommen waren, nachgerechnet. Wir waren schnell, viel zu schnell.

Aber ich kenne Eva: Sie lief auf Autopilot – und zwar so, dass es für sie im Moment passte. Irgendwann würde sich das nicht mehr ausgehen – aber bis es soweit war, galt: "Never touch a running system."

Foto: thomas rottenberg

Ich hielt mich also zurück und biss mir auf die Zunge, hielt dann, wenn uns von hinten Pacer-Wellen aus nach uns gestarteten Blöcke zu überrollen drohten, Evas Rücken und Flanken frei, holte Wasser und Energydrinks an den Labungsstellen, bestand alle sieben Kilometer darauf, dass wir uns ein Gel zumindest teilten – und begann den Lauf zu genießen.

Denn die Party, die da auf und neben der Strecke abging, war super. Trotz des grenzwertigen Wetters standen die Leute dicht an dicht. Familien saßen im strömenden Regen auf Picknickdecken, singende Kirchengemeinden und ganze Feuerwachen feuerten uns an. Soldaten, Polizisten, Sanitäter und Volunteers johlten und pfiffen. Manche Cops ließen es sich nicht nehmen, sich an den Labungsstellen zwischen die Volunteers zu stellen und Becher zu reichen: Das hier war noch besser als New York.

Foto: thomas rottenberg

Und auch mehr "bei den Menschen" als Boston oder Berlin: Auf Bühnen am Straßenrand, in Vorgärten und auf Balkons standen Soundsysteme oder gleich ganze Bands.

Und allem Anschein nach war es jeder Community, jedem lokalen DJ, jeder Bar, jeder Pfarre, jedem Kindergarten, jeder Charityorganisation und jedem Sportverein ein echtes Anliegen, als Supporter an der Strecke dabei zu sein – und sich wie ein Schneekönig zu freuen, wenn man nicht einfach vorbeizog, sondern ein bisserl mitspielte.

Foto: thomas rottenberg

Und dann waren da die Schilder. Neben persönlichen Nachrichten, Klassikern zum Themenkreis "vergänglicher Schmerz / ewiger Ruhm" oder eindeutig Zweideutigem der Wortspiel-Neigungsgruppe "lang, hart & ausdauernd" gab es da jede Menge Politisches …

Foto: thomas rottenberg

… oft genug aber auch Alkoholisch-Analytisches. Alles anzuführen würde den Rahmen sprengen. Sollten Sie mehr Fotos vom Lauf sehen wollen, verweise ich deshalb auf das Chicago-Album in meinem Facebook-Account ...

Foto: thomas rottenberg

… und komme zurück nach Chicago: Ich kenne die US-Zahlen nicht, bezweifle aber, dass tatsächlich ein Prozent der Amerikaner Marathon läuft. In Österreich sind es angeblich 8.000 Personen, die pro Jahr ein- oder mehrmals laufend bestätigen, dass Douglas Adams' "Anhalter" die Antwort auf alle Fragen in einer einzigen Zahl sah: 42.

Foto: thomas rottenberg

Blödeln, Schildersammeln, Straßenrandpartymachen oder mit anderen Leuten quatschen geht nur, wenn es dem Menschen, den man eigentlich betreuen soll, halbwegs gut geht: Eva lief schon seit etlichen Kilometern rund und sauber – aber weiterhin zu schnell. Ich zwang sie förmlich zu Trinkpausen.

Ab und zu kommentierte sie dabei wieder das Geschehen auf und neben der Strecke, antwortete auf einen Ruf oder ein Winken vom Streckenrand, wollte kleine Hunde "retten" (also entführen) – und hatte genug Kraft, mich dafür zu verfluchen, dass ich sie "in diesen Scheiß hineintheatert" hätte: "Du bist Schuld!" Ich hielt die Klappe: "Anger is an energy" sangen Public Image Limited einst. Mit Gründen.

Foto: thomas rottenberg

Aber neben der Euphorie und dem Doch-Spaß-Haben und das Fest irgendwie auch genießen gab es auch andere Momente:

Wenn nach 25 oder 30 Kilometern Krämpfe auftreten und Körperstellen schmerzen, von deren Existenz man bisher nichts wusste.

Wenn trotz disziplinierter Flüssigkeits-, Gel- und Salzzufuhr schlagartig alle Kraft weg ist.

Wenn das Warum tu ich mir das eigentlich an? wie eine Lawine über einen kommt.

Wenn man nur Leute sieht, die einen überholen, aber nicht die, die man selbst überholt.

Wenn man sich wie der schwächste Wurm auf dieser verfluchten Strecke fühlt. Einer Strecke, die nicht kürzer werden will.

Wenn man – obwohl man es vorher 1.000-mal von 100 Leuten erzählt bekommen hat – nicht mehr weiß, nie gehört hat, dass das ganz normal ist. Dass es jedem und jeder irgendwann so geht.

Wenn man nur eines weiß: Dass man das nicht schaffen wird, nie.

Weil 42 Kilometer so verdammt lang sind. So unendlich lang.

Foto: thomas rottenberg

Dann ist es gut, nicht allein zu sein. Zu sehen, zu spüren, gesagt und gezeigt zu bekommen, dass das alles wirklich vollkommen normal ist. Dass man kann, wenn man will: Das ist Marathon.

Der Freund oder Partner ist da der falsche Bote: Der hat jetzt null Glaubwürdigkeit.

In solchen Augenblicken hilft es, an Einhörner zu glauben. Weil die ja auch an uns glauben. Und da sind, wenn man sie am allerdringendsten braucht.

Plötzlich kann man dann wieder lächeln. Wieder Lachen. Und laufen.

Foto: thomas rottenberg

Spätestens jetzt wussten wir beide: Eva würde ankommen.

Auf den letzten zwei Kilometern der Strecke spielten sich Dramen ab. Klassiker. Läuferinnen und Läufer, die schlagartig und genau vor uns stehen blieben. Sich auf die Strecke setzten. Völlig unmotiviert zu grotesk-verzweifelten Sprints ansetzten – um 50 Meter später in die Knie zu gehen. Oder einfach umfielen.

Aber es gibt auch Herzausreißerbilder. Den Läufer etwa, der einen Wildfremden über die letzten eineinhalb Kilometer bis ins Ziel stützt. Weil es nicht darum geht, ob man selbst jetzt noch zwei, drei oder fünf Minuten gewinnt oder verliert, wenn daneben der Traum eines anderen platzt: Auch das ist Marathon.

Foto: thomas rottenberg

Die letzten 200 Meter von Chicago sind dann der härteste Teil der ganzen Strecke. Da ist ein Berg. Jedenfalls fühlt sich diese Steigung für alle, die auf Anschlag unterwegs sind, nach 42 Kilometern so an. Dabei geht es hier lediglich acht Höhenmeter über eine Rampe: Man muss über die Bahngleise, um zum Grand Park zu kommen.

Dann geht es nach links, sanft bergab. Da vorne – der Zielbogen. Dort ist es vorbei: Dort ist man einen Marathon gelaufen. 42,2 Kilometer.

Ich nehme Evas Hand und mache einen, zwei kürzere Schritte: Sie ist vor mir im Ziel.

Foto: thomas rottenberg

Die Zeit? Total egal. Achim Wippel, der Chef einer deutschen Marathonreisegruppe, die im gleichen Hotel wie wir abgestiegen war, hatte es tags zuvor auf den Punkt gebracht: "Das wird morgen dein erster Marathon. Egal wie lange du brauchst: Es wird persönliche Bestzeit – und das werden bei den Bedingungen morgen nicht viele schaffen."

Als wir vom sogenannten Al-Bundy-Brunnen im Grand Park zurück ins Hotel gehen, bleibt Eva plötzlich stehen: "Oh nein, bitte nicht! Ich habe dir vor dem Lauf und währenddessen sicher 50-mal geschworen, dass das mein erster und letzter Marathon ist. Aber keine Stunde nach dem Zieleinlauf denke ich schon darüber nach, was ich das nächste Mal anders mache." (Thomas Rottenberg, 10.10.2018)

Mehr Bilder vom Chicago-Marathon gibt es in diesem Fotoalbum, Bilder von den anderen Läufen und dem Marathon-Drumherum finden Sie auf Tom Rottenbergs Facebook-Seite. Der Track auf Garmin – mit allen leicht rauszulesenden Höhen und Tiefen: https://connect.garmin.com/modern/activity/3072533617 – und last but not least der Link zu dem offiziellen Ergebnis auf der Seite des Veranstalters: http://results.chicagomarathon.com/2018/?lang=EN_CAP&pid=start

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Tom Rottenbergs Reise und Lauf war eine Einladung von Runners Unlimited. Reise und Startplatz von Eva wurden regulär gebucht und bezahlt.

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