Karen Rosenkranz erzählt in ihrem neuen Buch "City Quitters" 22 Geschichten von Menschen aus aller Welt, die von der Großstadt aufs Land gezogen sind. Wir fragten die in London lebende Österreicherin nach den Gründen, Ängsten und Freuden der Stadtflüchtigen

STANDARD: In Ihrem soeben erschienenen Buch stellen Sie Menschen aus zwölf Ländern vor, die von der Stadt aufs Land gezogen sind. Gibt es einen gemeinsamen Nenner dieser "Stadtflüchtigen"?

Karen Rosenkranz studierte Industriedesign an der FH Joanneum in Graz. Sie arbeitete in Designbüros in Amsterdam, New York und London. Seit 2014 ist sie in London selbstständig im Bereich Research, Trendforschung und Designstrategie tätig.
Foto: Claudia Rocha

Karen Rosenkranz: Es existieren durchaus verbindende Themen, wie zum Beispiel der Wunsch nach einem einfacheren Leben und nach weniger finanziellem Druck. Der Fokus auf die Arbeit und weniger Ablenkung gehören auch zu diesem gemeinsamen Nenner.

STANDARD: Ist es denn in der Stadt schwerer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren?

Rosenkranz: Ich spreche von Reizüberflutung und einem permanenten Vergleichen. In der Stadt wird man bewusst oder unbewusst ständig damit konfrontiert, was die anderen tun. Ob dies auf Social Media passiert oder man unterwegs ist und mitkriegt, was alles los ist. Ich denke, das vergrößert den Druck und beeinflusst den kreativen Output.

STANDARD: Aber Facebook, Instagram und Co gibt's doch auch auf dem Land.

Rosenkranz: Ja, natürlich. Nur hat das dort andere Auswirkungen. Die meisten sehen Social Media auf dem Land als eine Art Lifeline, als eine Verbindung zu dem, was in der Stadt passiert. Der empfundene Druck ist bei den meisten ein geringerer, wenn man die Sache von außen betrachten kann. In der Stadt gibt es auch viel mehr Trigger, um Social Media zu nutzen.

Riccardo Monte
ist von Beruf Architekt und Künstler. Von Mailand übersiedelte er nach London, ehe er sich in den 3.400-Seelen-Ort Ornavasso im Piemont zurückzog, wo er auch geboren worden war. Hier, so sagt er, habe er alles, was er wolle.

Fotos: Mario Curti, Davide Tartari, Katie May, Pretziada; alle aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers
Fotos: Mario Curti, Davide Tartari, Katie May, Pretziada; alle aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers

STANDARD: Ihre 22 Protagonisten, die alle in Orte mit weniger als 10.000 Einwohnern übersiedelten, sind in erster Linie kreativ tätig. Wie kam es zu dieser Auswahl?

Rosenkranz: Mir ging es nicht darum, die klassischen Aussteigergeschichten zu zeigen, sondern darum, herauszufinden, was es für kreativ arbeitende Menschen bedeutet, diesen Schritt zu wagen. Ich besuchte Künstler ebenso wie kreative Unternehmer. Eine Frau aus dem Buch hat in Kalifornien eine Marke für Naturkosmetik gegründet, ein anderer produziert Honig in England, ein Deutscher hat eine Fischräucherei ins Leben gerufen.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass es sich bei dieser Abkehr von der Stadt um einen Trend handelt?

Rosenkranz: Was die wirklichen Großstädte betrifft, auf jeden Fall. Wobei es sich auch nicht immer um eine Abwanderung aufs Land handeln muss. Viele bewegen sich auch einfach in kleinere Städte. Der Stadtzuwachs in Los Angeles oder New York belief sich im vergangenen Jahr auf lediglich 0,2 Prozent. Historisch betrachtet ist das unglaublich wenig. In den USA handelt es sich um einen regelrechten Boom, in die Suburbs zu ziehen. In Wien ist das vielleicht noch anders, ganz abgesehen von der höheren Lebensqualität.

STANDARD: Es ist also eher ein Kostenthema denn ein Modethema.

Rosenkranz: Beides. Viele Menschen können sich die Stadt einfach nicht mehr leisten. In London tut man sich mit einem geringen Einkommen immer schwerer. Unter den Leuten, die ich porträtierte, befindet sich ein junger Künstler. Er hätte in London von früh bis spät in einer Agentur arbeiten müssen, um sich nebenher der Kunst widmen zu können. Er zog lieber in ein Dorf mit 1600 Einwohnern. Dort kann er sich das Leben und seine Kunst leisten.

STANDARD: Dennoch werden manche, die Ihr Buch durchblättern, meinen, es handle sich – bitte verzeihen Sie den Ausdruck – um eine Bobogeschichte.

Rosenkranz: Vielleicht ist das in Österreich ein Bobothema. In London, New York oder Los Angeles schaut das ein bisschen anders aus. Der Druck ist, wie bereits erwähnt, ein enormer, und unter diesem leidet auch die Arbeit. Viele wollen mit diesem Schritt auch ihre Kreativität schützen.

STANDARD: Es geht also auch um Lebensqualität und Freiheit.

Rosenkranz: Ja, und um Experimentierfreude, größeren kreativen Spielraum und auch um die Rückbesinnung auf das Wesentliche.

Kyre Chenven & Ivano Atzori
zogen von New York nach Mailand und von dort auf ein Fleckchen auf Sardinien, wo gerade einmal sechs Menschen wohnen. Die beiden betreiben das Designstudio Pretziada samt Shop. Auf Sardinien suchten und fanden sie Ruhe und einen Neustart.

Foto: Mario Curti, Davide Tartari, Katie May, alle aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher
Foto: Mario Curti, Davide Tartari, Katie May, alle aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher

STANDARD: Die 22 Geschichten in Ihrem Buch spielen sich auf allen möglichen Kontinenten ab. Sind die Motive dafür, aufs Land zu ziehen in Europa, andere als anderswo?

Rosenkranz: Die Motive ähneln sich schon. Was heraussticht, ist die Geschichte aus China. Aufs Land zu ziehen und zu entschleunigen gilt dort noch nicht als erstrebenswert. Das Paar im Buch, eine Fotografin und ein Cartoonist, zog von Beijing in die Provinz. Die Eltern der beiden waren höchst unerfreut und zeigten anfangs wenig Verständnis für diesen Schritt. Das Land gilt in China oft noch als ein Platz für Bauern, als ein Ort ohne Komfort.

STANDARD: Ist eine bestimmte Altersgruppe besonders "anfällig" für die Überlegung, aufs Land zu ziehen?

Rosenkranz: Die meisten der von mir Porträtierten haben sich ein Stück weit in der Stadt etabliert und ihr Netzwerk gesponnen. Das ist für Freiberufliche sehr wichtig, schließlich ist man auf dem Land fernab von Partys und Meetings. Der Jüngste im Buch ist 26 Jahre alt, der Älteste 50. Ich glaube aber, dass die Leute, die diesen Schritt unternehmen, immer jünger werden.

STANDARD: Wie kamen die Menschen zu ihren neuen Bleiben?

Rosenkranz: Bei manchen gab es einen familiären Bezug, das heißt, sie übersiedelten zum Beispiel in eine Gegend, in der sie aufgewachsen sind. Manche folgten der Intuition. Lynn Mylou zum Beispiel fuhr mit Hund und Van in Amsterdam los und landete in Portugal, wo sie sich ein Stückchen Land gekauft hat. Manche gehen es organisierter an. Michael Wickert, der Fischräucherer, hat ein Jahr auf Campingplätzen verbracht und alle Orte in der Umgebung besucht, ehe er sich in einem 1000-Seelen-Nest in der Uckermark niederließ.

STANDARD: Was sind die größten Herausforderungen bei der Entscheidung, der Stadt den Rücken zu kehren? Oder anders gefragt: Was würden die Menschen aus Ihrem Buch anderen raten, die überlegen, es ihnen gleichzutun?

Rosenkranz: Die meisten würden sagen: "Just do it". Manche sind schon ein bisschen naiv an die Sache herangegangen, vor allem was Umbauen von Häusern und Wohnungen betrifft. Auch wundern sich manche, wie lange es auf dem Land dauern kann, bis mal ein Handwerker vorbeikommt, um etwas zu reparieren, oder wie lange in manchem Geschäft getratscht wird, ehe man bedient wird. In der Stadt ist man es gewohnt, dass alles sofort passiert.

Mariana de Delás
ist Architektin und landete nach Stationen in Barcelona, Melbourne, Mumbai und Madrid in Es Llombards auf Mallorca, wo sie den elterlichen Bauernhof wieder auf Vordermann bringt und ihre experimentellen Architekturprojekte realisiert. Einwohnerzahl des Dorfes: 500.

Mariana de Delás & Gartnerfuglen, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers
Foto: Mariana de Delás & Gartnerfuglen, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers
Foto: Mariana de Delás & Gartnerfuglen, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers

STANDARD: Wovor haben die Leute die meiste Angst, bevor sie ihren Plan umsetzen?

Dass sie in einer Art Isolation landen, dass es ihnen an Aufträgen und Arbeit mangelt, dass ihnen die Landbevölkerung nicht offen gegenübersteht. Solche Dinge.

STANDARD: Wie reagiert denn die Bevölkerung auf dem Land auf die Städter?

Rosenkranz: Die meisten stehen den neuen Einwohnern positiv gegenüber. Viele freuen sich über frischen Wind und darüber, dass etwas geschieht. Es gibt auch Unterstützung, und die Neuankömmlinge spüren, dass sie aus ihrer Blase aus der Stadt rauskommen. "Raus aus der Blase" ist für viele eine Art Zusatzmotto. Meist umgibt man sich in der Stadt ja doch mit Gleichgesinnten. Das funktioniert auf dem Land nicht mehr. Ich denke, man wird dadurch offener.

STANDARD: Und wie wirkt sich die Entscheidung, die Stadt hinter sich zu lassen, auf die Arbeitssituation aus?

Rosenkranz: Verschieden. Manche können ihre Leidenschaft für das, was sie interessiert, erst auf dem Land richtig ausleben. Es gibt zwei Frauen im Buch, die von New York in einen kleinen Ort gezogen sind, wo sie innerhalb von vier Monaten ein Restaurant aus dem Boden stampften, in dem auch Performances und Ausstellungen stattfinden. Das wäre für die beiden in der Stadt nicht möglich gewesen. Vielen ermöglicht die Entscheidung, zu gehen, ihr Traumprojekt. Für andere wiederum, es kommt auf den Job an, hat sich durch das Internet fast gar nichts geändert.

STANDARD: Benötigt man als City-Quitter eine Portion Romantik, oder ist die eher schädlich für den Plan, aufs Land zu ziehen?

Rosenkranz: Es gibt schon auch romantische Zugänge, aber ein Ziel meines Projekts war es auch, diese Romantisierung des Landlebens zu hinterfragen, denn das Dasein auf dem Lande wird in den Medien oft sehr verklärt und nostalgisch dargestellt.

STANDARD: Was vermissen die Menschen an der Stadt?

Rosenkranz: Eher banale Dinge wie zum Beispiel den Japaner an der Ecke oder ein Fitnesscenter. Einer anderen fehlt das U-Bahn-Fahren in New York, weil sie dort so gut Menschen beobachten konnte.

STANDARD: Haben manche den Schritt bereut?

Rosenkranz: Nicht wirklich, es gibt einige wenige, die ihren Plan etwas korrigiert haben. Es gibt zwei Geschichten aus den USA, bei denen von Menschen erzählt wird, die in sehr abgelegene Gegenden gezogen sind. Nach einem Jahr haben sie gemerkt, dass es ihnen zu verlassen war, und sie zogen in einen kleinen Ort mit ein paar Tausend Einwohnern. Aber niemand von den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, möchte die Entscheidung rückgängig machen.

Paul Webb
ist Imker und Mitgründer der Honigmarke Black Bee Honey. Von London verschlug es ihn nach Manchester und weiter nach Pitcombe im englischen Somerset, das 500 Einwohner zählt. Angefangen hat alles mit einem Imkerkurs in London.

Foto: Claudia Rocha aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher
Foto: Claudia Rocha aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher
Foto: Claudia Rocha aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher

STANDARD: Gibt es ein Kapitel, das Ihnen ganz besonders am Herzen liegt?

Rosenkranz: Ich denke, das ist die Geschichte der bereits erwähnten Lynn Mylou, die von Amsterdam nach Portugal zog, nachdem sie in verschiedenen Agenturen in Berlin und New York gearbeitet hatte. Sie hat sich in Portugal ein Holzhaus gebaut, lebt "off the grid" und hält Workshops für Leute, die es ihr gleichtun wollen. Kurz nachdem wir die Fotos für das Buch gemacht hatten, ist ihre gesamte Bleibe einem Waldbrand zum Opfer gefallen. Das hat mich sehr erschüttert. Inzwischen ist aber mithilfe vieler Menschen und einer Crowdfundingaktion wieder alles aufgebaut worden.

"City Quitters" von Karen Rosenkranz, erschienen bei Frame Publishers, 256 Seiten (engl.), 34 Euro, ISBN 978-94-92311-31-3, erhältlich bei Frame Publishers

STANDARD: Wie reagieren eigentlich die Kinder auf das Leben fern der Stadt?

Rosenkranz: Positiv. Sie haben mehr Platz, sind mehr in der freien Natur. Aber glauben Sie nicht, dass die Kinder auf dem Land nicht auch am Tablet hängen.

STANDARD: Sie selbst sind nach dem Studium von Graz nach Amsterdam und New York gezogen. Nun leben Sie seit zwölf Jahren in London. Nicht gerade eine Stadtflucht. Hat Sie denn der Virus der City-Quitters kein bisschen erwischt?

Rosenkranz: Mein Mann, die Kinder und ich sind hier in London sehr glücklich. Klar redet man dann und wann mal darüber, aber im Moment ist es für uns kein Thema.

STANDARD: Und wenn es mehr als Reden wäre, welches Dorf würden Sie auswählen?

Wenn ich das wüsste ...

STANDARD: Zurück in die Steiermark?

Rosenkranz: Im Augenblick kann ich es mir nicht vorstellen, aber wir verbringen sehr gerne Zeit dort.

STANDARD: Mit welcher Person aus dem Buch würden Sie am liebsten das Zuhause tauschen?

Rosenkranz: Ich glaube mit dem Pärchen, das nach New York und Mailand in einem einsamen Örtchen auf Sardinien die Zelte aufschlug. Die Gegend ist wunderschön, das Klima super, und es gibt dort eine interessante Handwerkskultur. Außerdem ist das Haus wunderschön. (Michael Hausenblas, RONDO, 12.10.2018)

Lynn Mylou
arbeitete für verschiedene Agenturen in Berlin, New York und Amsterdam. Dort fuhr sie eines Tages mit ihrem Hund im Van los und kaufte sich nach einer langen Fahrt ein Stück Land im portugiesischen Cerdeira, wo neben ihr noch 320 andere Menschen und ein paar Hunde wohnen.

Foto: Arnie Galbraith, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher
Foto: Arnie Galbraith, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher
Foto: Arnie Galbraith, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher