Schmeckt gechlortes Wasser mit der Zungenspitze anders als in den seitlichen Regionen? Nein.

Foto: imago/Moritz Müller

Im Jahr 1901 verfasst der deutsche Physiologe David Hänig eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel "Zur Psychophysik des Geschmackssinnes". Er interessierte sich dafür, wann wir mit unserer Zunge welche Art von Geschmack wahrnehmen können. Wie süß muss etwas sein, damit wir es im Mund tatsächlich als süß schmecken? Wie salzig, sauer oder bitter? Um das herauszufinden, beträufelte Hänig die Zunge mit entsprechenden Mitteln und bestimmte die minimalen Mengen, die nötig sind, um noch einen entsprechenden Geschmack hervorzurufen. Und er wollte wissen, wie sich die Geschmacksempfindlichkeit der Zunge ändert – je nachdem, wo dort die Stoffe aufgebracht werden.

Tatsächlich fand Hänig Variationen entlang der Zunge. An ihrer Spitze reichte eine geringere Menge, um etwa den Eindruck von Süße zu erzeugen, als in ihrer Mitte. Diese Ergebnisse stellte Hänig in seiner Arbeit in Form von Karten dar. Für jede Geschmacksrichtung zeichnete er die Variation der Sensitivität in unterschiedlichen Bereichen der Zunge schematisch auf. Seine Bilder waren nicht falsch, aber sie waren nicht sehr gut. Vor allem waren sie potenziell missverständlich: Wer den (langen) Artikel von Hänig nicht aufmerksam las, sondern nur die Abbildungen betrachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass unterschiedliche Bereiche der Zunge für die Wahrnehmung unterschiedlicher Geschmäcker zuständig seien.

Hartnäckiges Missverständnis

Dieses potenzielle Missverständnis wurde ein paar Jahrzehnte später real. Der amerikanische Psychologe Edwin Boring schrieb 1942 ein Buch mit dem Titel "Sensation and Perception in the History of Experimental Psychology". Darin stellte er auch die Forschung von Hänig dar – und zwar in Form einer eigenen "Geschmackskarte" der Zunge. Boring schuf das, was das populäre Verständnis des Geschmackssinns für die nächsten Jahrzehnte dominieren sollte. Und auch heute findet man noch an vielen Stellen Abbildungen, die uns zeigen, dass unsere Zunge Süße nur an der Spitze wahrnimmt, dass wir Bitterkeit weit hinten auf der Zunge schmecken und am Rand der Zunge die Bereiche für salzigen und sauren Geschmack sitzen.

Dabei mangelt es nicht an entsprechender Forschung, die die Existenz solcher abgegrenzter Geschmacksbereiche widerlegt. Wir wissen schon seit den 1960er-Jahren, dass unsere Zunge so nicht funktioniert. Es gibt zwar tatsächlich Bereiche, in denen sich mehr Geschmacksknospen befinden als anderswo. Aber wir schmecken jeden Geschmack überall auf der Zunge. Die "Geschmackskarte" der Zunge ist ein hartnäckiger Mythos, ausgelöst durch einen Irrtum, der auf einer schlechten Darstellung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse basiert.

Borings falsche Illustration von Hänigs Ergebnissen gehört sicherlich nicht zu den gravierendsten Irrtümern der Wissenschaftsgeschichte. Aber sie zeigt dennoch zwei Dinge sehr eindringlich. Erstens die Macht der Bilder. Gerade wenn es um die Wissenschaftsvermittlung geht, darf man den Wert von Abbildungen nicht unterschätzen. Ein Bild kann nicht nur mehr als 1.000 Worte sagen, ein ausreichend beeindruckendes Bild wird uns unter Umständen auch davon abhalten, überhaupt irgendwelche erläuternden Worte zu lesen oder zu hören. Das ist vor allem dann tragisch, wenn das Bild – wie im Fall der Geschmackskarte – zwar eindringlich und intuitiv überzeugend, aber trotzdem falsch ist.

Zweifelnde Kinder

Und zweitens zeigt uns der Fehler Borings, dass Zweifel ein integraler Bestandteil der Wissenschaft sein muss, auch wenn es um Dinge geht, die man für längst etabliert hält. Die amerikanische Psychologin Linda Bartoshuk, die sich auf die Erforschung des Geruch- und Geschmackssinns spezialisiert hat, erlebte das im Gespräch mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Die Kinder führten ein vor allem in amerikanischen Schulen beliebtes Experiment durch: Mit in Zucker (oder Essig beziehungsweise andere Geschmacksträger) getauchten Wattestäbchen sollen die "Geschmacksbereiche" auf der Zunge identifiziert und mit der "offiziellen" Karte verglichen werden.

Als die Kinder diese Bereiche im Experiment nicht nachvollziehen konnten und stattdessen feststellten, dass jeder Geschmack überall geschmeckt werden kann, wurden sie von Bartoshuk gefragt, was ihrer Meinung nach bei dem Versuch schiefgelaufen war. Die Antwort der Kinder: "Wir müssen das Experiment wohl falsch durchgeführt haben."

Der Glaube an die "Geschmackskarte" der Zunge war so groß, dass niemand auf die Idee kam, sie anzuzweifeln. Stattdessen zweifelten die Kinder an den eigenen Fähigkeiten und ihrem Experiment und nicht an dem, was – falsch! – in den Lehrbüchern stand. Das ist ein deprimierender Befund und zeigt deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Irrtümern ist.

Fehler machen, Fehler erkennen

Forschung ist eben kein direkter Weg. Wissenschaft wird von Menschen gemacht, und Menschen machen Fehler. Große Fehler und folgenreiche Fehler ebenso wie simple Irrtümer, ausgelöst durch missverständliche Illustrationen. Dessen muss man sich immer bewusst sein, und das sollte auch in jeder Schule und an jeder Universität Teil des Unterrichts sein.

Wer forscht, der irrt sich früher oder später auch irgendwann einmal. Und dann braucht es eine aufmerksame Community (und durchaus auch eine informierte und aufmerksame Öffentlichkeit), die offen für die Möglichkeit solcher Fehler ist; selbst wenn es sich um Resultate handelt, die sich schon in den Lehrbüchern etabliert haben. (Florian Freistetter, 16.10.2018)