Ein Besessener in Wien: Teodor Currentzis dirigiert am Dienstag im Konzerthaus Philippe Hersants Choroper "Tristia".


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Er ist ein Typ, der packt und anpackt. Zum Finale eines wilden Rameau-Abends (doch, so was gibt es!) schnallt er sich die Trommel um und zieht wie ein Rattenfänger über die Bühne. Aus Tönen der Herren Bach, Beethoven & Co, die in der Schnarchbude Konzertsaal gern zelebriert werden wie in einem steifen Hochamt, macht er so intime und intensive Ereignisse wie Berührungen. Manchmal wagt er auch zu viel und stürzt ab wie Ikarus: Ein Scherzo einer Beethoven-Symphonie wird dann zur sinnbefreiten Hudelei. Egal: Diese "düster-erotische Mischung aus Dandy und Magier mit einer Prise Graf Dracula" (Cicero) elektrisiert weite Teil der Klassikwelt (der Rest fühlt sich dadurch verstört). Teodor Currentzis sei "einer der wenigen", so raunte die Zeit etwas umständlich, "die ein musikalisch Weltganzes neu zu erzeugen imstande wären". Veni, creator spiritus!

Die biografischen Basics: Der Athener Teodor Currentzis wurde in St. Petersburg von Ilya Musin zum Dirigenten ausgebildet. 2004 ging er freiwillig nach Sibirien, als Chefdirigent des Opern- und Balletttheaters von Nowosibirsk. Dort gründete er im selben Jahr auch das Kammerorchester MusicAeterna. Als er 2011 nach Perm wechselte, nahm er das auf ihn eingeschworene Kollektiv einfach mit. Seit September dieses Jahres widmet sich der Leidenschaftliche auch noch einem mitteleuropäischen Klangkörper: Das aus einer Orchesterfusion hervorgegangene SWR Symphonieorchester will er ganz nach seinen eigenen Klangvorstellungen formen.

Mit seinem neuen Orchester war Currentzis kurz nach seinem Amtsantritt im Wiener Konzerthaus mit einem gigantischen Präsent zu Besuch, mit Mahlers Dritter. Die Sache war irre intensiv, man musste fallweise aufpassen, nicht aufs Atmen zu vergessen. Dass die Truppe von MusicAeterna ihrem Chef komplett hörig ist, wusste man. Nun sah man auch beim traditionellen Konzertorchester aus dem bodenständigen Schwabenland strahlende Mienen und rosige Wangen: Totaleinsatz. Weniger darf bei Currentzis auch nicht sein.

Komplett ausleuchten

Auch Markus Hinterhäuser war als Zuhörer dabei. Der Pianist und Intendant der Salzburger Festspiele hat Currentzis zu einem der zentralen Künstler des Festivals gemacht: Er hat ihm die erste Opernpremiere seiner Intendanz anvertraut (Mozarts Clemenza), und auch alle neun Beethoven-Symphonien durchlebten Currentzis und MusicAeterna dort. Was waren die Beweggründe dafür? Currentzis sei ein Künstler, der eine Partitur komplett ausleuchte und neue, interessante Nebenwege fände, meint Hinterhäuser zum STANDARD. Er hätte Mut zum Risiko, Mut, auch Wege zu gehen, wo das Eis dünner sei. Currentzis lege der Musik gegenüber eine absolute Ernsthaftigkeit an den Tag: "Er ist in den Proben ein akribischer Arbeiter", so Hinterhäuser, "er hat eine Besessenheit, zu einem Resultat zu kommen. Und es gelingt ihm, in einem Kollektiv ein Feuer zu entfachen, Temperaturen zu erreichen, die ein Orchester nicht gewohnt ist."

Nicht alle Klangkörper kommen mit Currentzis feuriger Art und seiner Forderung nach absoluter Hingabe zurecht. Bei der Mozartwoche 2013 soll die Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern – einem Spitzenorchester, dessen großglocknermächtiges Selbstbewusstsein die Gefahr der Überheblichkeit wie auch der Bequemlichkeit in sich birgt – eine wenig harmonische gewesen sein. Es gebe aktuell "keine Konzertpläne mit Herrn Currentzis", melden die Philharmoniker auf Nachfrage.

Für Ideen einspannen

Die Wiener Symphoniker haben 2010 erstmals bei den Bregenzer Festspielen mit Currentzis gearbeitet, bei der Hausproduktion von Mieczyslaw Weinbergs Oper Die Passagierin. Im Jänner 2017 wurde mit Currentzis im Konzertsaal ein Tschaikowsky-Programm gespielt. Wie waren hier die Erfahrungen des Orchesters? Es sei klar gewesen, meint Symphoniker-Intendant Johannes Neubert, dass eine Zusammenarbeit mit einem Künstler wie Teodor Currentzis nur Sinn mache, wenn man "alles vergisst, was vorher war und sich zu 120 Prozent auf seine Ideen einlässt". Das hätten die Mitglieder des Orchesters getan und wären mit "einzigartigen, mitreißenden Konzerten" belohnt worden. Neben seiner einzigartigen Musikalität begeistert Neubert an Currentzis dessen "Charisma an der Grenze zum Narzissmus, sein Grenzgängertum und die Fähigkeit, alle um sich herum für seine Ideen einzuspannen". Der Kenner der Branche fasst es so zusammen: "Künstler wie er tun unserem Metier sehr gut."

Dem würde auch Matthias Naske zustimmen. Dem Intendanten des Konzerthauses ist es früh gelungen, den Kapriziösen ans Haus zu locken. Auch für die kommenden Jahre gebe es "faszinierende Pläne" mit Currentzis, so Naske. Er schätzt am 46-Jährigen die "Tiefe, Authentizität und Unmittelbarkeit" seines Ausdrucks und kehrt dessen "Mut, Demut und große Neugier" im Musikzugang hervor. Neugierig kann man auch auf Currentzis' nächsten Auftritt im Konzerthaus sein: Am Dienstag interpretiert er mit MusicAeterna Philippe Hersants in Perm uraufgeführte Choroper Tristia – das Libretto basiert auf Gedichten von Gefangenen. Für dieses ungewöhnliche Projekt sei hiermit die Trommel geschlagen. (Stefan Ender, 20.10.2018)