Geopolitik und individuelle Schicksale: Gerhard Jäger.

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Wien – Ein Mann mit Gewehr auf einem Wachturm, vor ihm liegen ein dämmriges Feld und eine lange Nacht. Plötzlich "flattern Vögel auf, als hätte ein Schuss sie erschreckt". Es sind nur wenige Sätze, die Gerhard Jäger in seinem neuen Roman All die Nacht über uns (Picus, 22 Euro) benötigt, um den Leser in eine dichte und archaische Atmosphäre zu versetzen, deren dunklem Sog man sich nur schwer entziehen kann.

Der namenlose Mann, um den sich in diesem Roman alles dreht, ist Soldat. Er und seine Kameraden bewachen als "Augen ihrer Gemeinschaft" die Grenze und starren "auf der Suche nach Schatten im Finsteren, auf der Suche nach dem, was nicht hier sein darf", ins Dunkel der Nacht. Jene Fremden, die unerwünscht sind, versucht man sich in diesem Roman mit drei Meter hohen Zäunen vom Leib zu halten. Gelingen wird es nicht.

Nicht "nur" Flüchtlingsroman

Der 1966 im Vorarlberg geborene Schriftsteller Gerhard Jäger, der als Behindertenbetreuer, Lehrer und Journalist arbeitete, legt es in seinem zweiten Buch allerdings nicht darauf an, "nur" einen Flüchtlingsroman zu schreiben. Zwar thematisiert er immer wieder die (geo)politische Dimension von Krieg und Vertreibung, mehr noch interessiert ihn aber die Spiegelung des Themenkomplexes Heimat, Flucht und Zugehörigkeit an individuellen Schicksalen. Unter anderem in Form der authentischen Geschichte eines 14-jährigen Mädchens, das 1945 von der Roten Armee aus Hinterpommern vertrieben wurde, die in den Roman eingearbeitet ist.

Schnell wird auch klar, dass es sich bei diesem Soldaten, von dem in der dritten Person im Präsens erzählt wird, um einen handelt, der selbst an die Grenzen der Kraft und seiner Fantasie gelangt ist. Nicht erst seit einer Serie von Schicksalsschlägen hat sich in ihm eine "ungeheure Fremdheit" breitgemacht. Oft ist das ziellose Gehen für ihn die einzige Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen.

Nun ist er in diesem Buch auf der Plattform des Turms zur Immobilität verdammt, während seine Gedanken und Erinnerungen außer Kontrolle geraten. Letzteres ist auch der fast vollkommenen Dunkelheit geschuldet, in der Gerhard Jäger die zwölf Kapitel des Buches spielen lässt, für jede Stunde der um 19 Uhr beginnenden Nachtwache eines.

Auge in Auge

Es gehört zu den gelungenen Kunstgriffen dieses Romans, dass neben dem Hören der visuelle Sinn der am meisten strapazierte bleibt. Denn Grenzsicherer leben vom Sehen. Und das Sehen, die Nähe verhindert zuweilen das Töten. Auge in Auge fällt kein Schuss. Jedenfalls in diesem Roman kein gezielter.

Die Passagen, in denen die existenzielle Verunsicherung des Soldaten angedeutet wird und dieser in seine Erinnerungen verstrickte Wächter zum von sich selbst Gejagten wird, sind stark und schlüssig. Allerdings hat der Autor weitere Ebenen in den Roman eingearbeitet. Der Soldat hat sein Kind verloren, das unbeaufsichtigt im Pool ertrank, die Frau ging in den Freitod und nach einer Vergewaltigung stürmen aufgebrachte Menschen ein Flüchtlingsheim. Sie haben Fackeln in der Hand, auch der Soldat.

Das derart überfrachtete Buch bricht am Ende unter seiner Last zusammen. Zudem weicht die anfänglich poetische, aber trotzdem präzise Erzählweise einem raunenden Beschwörungston, der von sprachlichen Versatzstücken nicht frei bleibt. All das nimmt dem Buch die in ihm angelegte Ambivalenz, Weite und Wucht.

Trotzdem findet sich Gerhard Jägers Roman zu Recht auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis: weil hier das Erzählen dem Leben dient. Auch dem Leben der Toten und dem Leben jener Schatten hinter dem Grenzzaun. (Stefan Gmünder, 31.10.2018)