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Betreuungspflichten wirken sich beim AMS-Algorithmus nur bei Müttern, nicht bei Vätern aus.

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Die Einführung eines Algorithmus beim AMS, der die Arbeitsmarktchancen von Menschen automatisiert berechnet, und die Tatsache, dass auf Basis dieser Berechnung arbeitslose Menschen in drei Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsmarktintegrationschancen eingeteilt werden, hat zu großen Diskussionen geführt. Die Tatsache, dass Menschen nach ihren Arbeitsmarktchancen geclustert und segmentiert werden, ist an sich nicht neu, durch die Einführung des Algorithmus verdeutlichen sich aber die vorhandenen Diskriminierungen am Arbeitsmarkt. Die entscheidende Frage ist aber weniger, ob ein Algorithmus die tatsächlichen Chancen und auch Benachteiligungen von verschiedenen Menschen am Arbeitsmarkt anzeigt, sondern, wie anhand der berechneten Benachteiligungen Ressourcen verteilt werden.

Die Einführung von klassifikatorischen Algorithmen orientiert sich an Verfahren der Medizin. In der Weise, wie auf eine Erhebung der Symptome eine Diagnose und eine Behandlung erfolgen, soll auch in der Arbeitsmarktverwaltung auf die Erhebung von Kundendaten eine Art soziale Diagnose vorgenommen werden, an die sich geeignete Handlungsprogramme anschließen. Allerdings wird in der Arbeitsmarktverwaltung darauf verzichtet, für die "Krankheiten" entsprechende komplexe Problembeschreibungen zu entwickeln.

Beispiel Triage

Stattdessen findet eine Klassifikation in drei Gruppen statt, die sich an die Triage der Lazarett- und Katastrophenmedizin anlehnt. So wie bei der Erstversorgung im Feld oder bei Katastrophen entschieden wird, bei welchen Opfern es nicht mehr zu helfen lohnt, welche Opfer (augenblicklich) nicht behandelt werden müssen, da sie auch ohne Behandlung überleben werden, und bei welchen Opfern eine Hilfe kurzfristig Leben rettet, so werden auch hier Kundengruppen eingeführt, die in unterschiedlicher Weise behandelt werden.

Das Beispiel der Triage ist insofern hilfreich, weil es eine Einordnung erlaubt. Sie betrifft die Notfallmedizin im Krieg oder bei Katastrophen. Außerhalb solcher Situationen muss es für Ärzte das Ziel sein, allen Patientinnen und Patienten die nötige und bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen – auch wenn diese teuer ist.

Wir befinden uns am Arbeitsmarkt aber weder im Krieg noch in einem Katastrophenszenario, ganz im Gegenteil: Die gute Wirtschaftslage und der Aufschwung führen dazu, dass viele Menschen mit mittleren Integrationschancen momentan leichter Arbeit finden. Menschen, die bisher stark am Arbeitsmarkt ausgegrenzt waren, bleiben es aber weiterhin. Die Langzeitarbeitslosigkeit sinkt stärker als als die Arbeitslosigkeit insgesamt; sie ist immer noch dreimal höher als 2008, und Menschen über 50 Jahre, die lange von Arbeitslosigkeit betroffen sind, werden vom Aufschwung kaum erfasst – sie bleiben arbeitslos.

Perspektive Gerechtigkeit

Wählt man nun eine Perspektive von Gerechtigkeit, dann stellt sich die Grundfrage ganz anders: Ist nicht gerade bei geringen Arbeitsmarktchancen ein besonderes Bemühen gefragt, um so Chancengleichheit zu erreichen? Müssen wir für Menschen mit niedrigen Arbeitsmarktchancen aufgrund diverser diskriminierender Faktoren nicht viel mehr Geld investieren anstatt weniger? Ein solches Vorgehen ist in vielen Bereichen schon gang und gäbe, zum Beispiel bei der bedarfsorientierten Mittelzuwendung bei Schulen – so wie es gerade aktuell beim Thema Brennpunktschulen diskutiert wird. Auch die Aktion 20.000 war eine Maßnahme, die bewusst ältere Langzeitarbeitslose, also am Arbeitsmarkt aufgrund ihres Alters besonders benachteiligte Personen, unterstützt hat.

Gender Budgeting

Ähnlich verhält es sich beim Thema Frauen und Arbeitsmarktintegration: Es zeigt sich, dass die Indikatoren – wie bei den Betreuungspflichten, die sich nur bei Müttern und nicht bei Vätern auswirken –, die realen Diskriminierungen widerspiegeln und mit ihrer Verwendung erstens genau die diskriminierende Einschätzungen der Situation wiederholen und zweitens durch die darauf basierenden Entscheidungen diese Diskriminierung sogar perpetuieren.

Für Frauen ist das Recht der Gleichbehandlung durch das verfassungsrechtlich verankerte Gender Budgeting abgesichert: Seit 2007 muss das AMS die Hälfte seines Budgets für Beratung und Fortbildungen für Frauen ausgeben. Das ist wichtig und gerecht: Wenn Frauen geringere Chancen zugerechnet werden als Männern, weil sich durch Kinder die Arbeitsmarktchancen von Frauen, aber nicht von Männern verringern, dann sollte dieser diskriminierende Aspekt budgetär ausgeglichen werden.

Die Berichte über die Gleichstellungskennzahlen des AMS zeigen nun auf, dass das AMS diese verfassungsrechtliche Anforderung seit zehn Jahren nicht erreicht. Seit 2016 hat sich das AMS diese Vorgabe, 50 Prozent der Förderungen für Frauen auszugeben, selbst zu einem von acht arbeitsmarktpolitischen Jahreszielen gesetzt. Allerdings wurden auch 2017 nur 47 Prozent der Budgetmittel für Frauen ausgegeben.

Nicht nur Big-Data-Debatte

Der AMS-Algorithmus sollte uns also nicht dazu verleiten, die Diskussion allein über die Auswirkungen von Big Data im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu führen. Wir müssen verstehen, dass dieser Teil des Regierungsprogramms und einer strategischen Neuausrichtung des AMS ist. Diese besagt, dass sich das AMS in Zukunft auf die Gruppen mit guten und mittleren Integrationschancen konzentrieren wird. In die Gruppe der Menschen mit niedrigen Integrationswahrscheinlichkeiten werden weniger Mittel investiert werden. Was bedeutet es aber, wenn das AMS hier weniger investiert? Was bedeutet das für Wien, wo 42 Prozent aller arbeitslosen Menschen so eine niedrige Wahrscheinlichkeit haben? Hat das AMS nicht einen sozialpolitischen Auftrag? Wenn das AMS diesen sozialpolitischen Auftrag aus Effizienzgründen nicht (mehr) übernehmen will, welche Perspektiven haben diese Menschen in Zukunft?

Eine Perspektive, die nicht nur Effizienzüberlegungen (die Dinge richtig tun), sondern auch Effektivitätsüberlegungen (also die richtigen Dinge tun) und letztlich auch Gerechtigkeitsüberlegungen anstellt, müsste dafür sorgen, dass diejenigen, die die geringsten Arbeitsmarktintegrationschancen haben, die bestmöglichen Angebote und Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration zur Verfügung haben und auch die bestmögliche Beratung bekommen. Auch eine solche Perspektive kann immer nur das Ergebnis einer politischen Entscheidung sein. (Alban Knecht, Judith Pühringer, 2.11.2018)