Washington/Wien – Um es vorwegzunehmen: Wer sich aus dem Umfragebild vor den Midterm-Elections am Dienstag ein klares Bild erwartet, wird enttäuscht. Jenes Szenario, das die Demoskopen seit Monaten als das wahrscheinlichste erachten, ist zwar noch immer nahezu unverändert. Es sieht einen Sieg der Demokraten im Repräsentantenhaus und einen der Republikaner im Senat vor. Es gibt aber viele Unsicherheiten: vor allem deshalb, weil in vielen entscheidenden Wahlkreisen extrem enge Rennen erwartet werden.

Daher sind auch direkt vor dem Wahltag für Anhänger beider Parteien relativ einfache Wege zum Sieg denkbar. Nur rund 1,5 bis zwei Prozentpunkte müsste das Ergebnis von den Umfragen abweichen, um ein völlig anderes Resultat zu bewirken – mit massiven Auswirkungen auf die Politik der nächsten zwei Jahre.

Die folgenden drei Szenarien liegen im Gesamtergebnis aller Stimmen je zwei Prozentpunkte auseinander.

Szenario 1: Trumps zweite Amtszeit rückt näher

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1/6, die Wahrscheinlichkeit des Erratens eines Würfelergebnisses: So hoch lässt sich die Hoffnung für Fans von Präsident Trump auf einen großen Sieg beziffern.
Foto: Reuters / Jonathan Ernst

Es ist das Horrorszenario vieler Demokraten – und doch nicht ganz unwahrscheinlich. Rund 15 Prozent beträgt laut der Analyseseite "Fivethirtyeight" die Wahrscheinlichkeit, dass der aktuelle Umfragestand eine Situation abbildet, in der die US-Amerikanerinnen und Amerikaner am Dienstag eine republikanische Mehrheit ins Repräsentantenhaus wählen. Viel höher, bei rund 85 Prozent, liegt jene für einen republikanischen Senat. Weil die beiden Wahrscheinlichkeiten zusammenhängen, kommt man für einen totalen Republikaner-Triumph, also den Sieg in beiden Kammern, auf eine Chance von rund 1/6. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, beim Würfelspiel das Ergebnis zu erraten.

Kommt es dazu, wäre es rein mathematisch noch immer ein herber Dämpfer für die GOP: Es gilt als unbestritten, dass die Republikaner auch im für sie günstigsten Fall gegenüber 2014 und 2016 Stimmenanteile einbüßen werden. Auch jene unter den landesweiten Umfragen, die der Partei Anlass zu verhaltenem Optimismus bieten könnten, sehen die Partei mit rund fünf Prozentpunkten im Defizit. Ein möglicher Sieg wäre also den günstigen Wahlkreisgrenzen geschuldet.

So würde es aber kaum jemand aufnehmen: Präsident Trump könnte vielmehr darauf hinweisen, erneut die Erwartungen übertroffen zu haben. Seine Wahlkampagne der vergangenen Wochen, in der er offen mit der Angst vor Einwanderung, mit Fremdenfeindlichkeit und Unwahrheiten operierte, wäre aus seiner Sicht bestätigt. Eine Wiederholung in verschärfter Form wäre zur Präsidentenwahl 2020 so gut wie sicher.

Dazu käme die Folgewirkung für die republikanische Partei: Viele der Kandidaten, die bei einem Sieg in den Kongress einziehen würden, sehen Trump unkritischer, als es ihre Vorgänger getan hatten. Sie wären ihm wegen seiner Unterstützung zudem etwas schuldig. Die Motivation, dem nun durch Wahlen bestätigten Präsidenten beizustehen, wäre noch größer als bisher. Trump könnte vermutlich weitere Teile seiner Agenda durchsetzen – nicht zuletzt gäbe es wohl einen neuen Anlauf, um noch bestehende Reste von "Obamacare" zu beseitigen. Auch bei den Russland-Ermittlungen könnte sich Trump auf mehr Unterstützung gefasst machen. Die – ohnehin nur theoretische – Möglichkeit eines Impeachment wäre endgültig vom Tisch.

Für die Demokraten wäre die Niederlage besonders herb, weil sie den eigenen Erwartungen auf eine "blaue Welle" widerspricht. Sie würde zu internen Verwerfungen in der Partei führen und die Flügelkämpfe zwischen Zentristen und stärker links orientierten Kandidaten, zwischen Vertretern des klassischen Mainstreams und jenen von Minderheiten neu aufbrechen lassen. Auch das würde die Chance verringern, Trump bei den Präsidentenwahlen 2020 zu besiegen.

Für dieses Szenario sprechen einige Ergebnisse des "Generic Ballot" aus den vergangenen Tagen, die ein landesweit engeres Rennen abbilden als bisher angenommen. Andere zeitgleich durchgeführte Umfragen sehen dieses Ergebnis allerdings nicht.

Szenario 2: Für jeden etwas

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Nicht Fisch, nicht Fleisch – kein großer Sieg, keine echte Niederlage – ist das wahrscheinlichste Ergebnis für Präsident Trump.
Foto: Reuters / Jonathan Ernst

Das wahrscheinlichste Szenario ist jenes, mit dem beide Seiten leben könnten: ein knapper Sieg der Demokraten im Repräsentantenhaus und einer der Republikaner im Senat. Diese Variante ist das Resultat von etwa 65 Prozent der Wahlsimulationen auf Basis aktueller Umfragen – circa die gemeinsame Wahrscheinlichkeit, 1, 2, 3 oder 4 zu würfeln.

Die öffentliche Auslegung käme wohl den Demokraten entgegen. Immerhin hätten die Republikaner trotz ungewöhnlich guter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen die Mehrheit im Repräsentantenhaus verloren. Eine Mehrheit der Wähler hätte sie abgelehnt.

Trump könnten aber die Berichte amerikanischer Medien aus dem Sommer helfen, die eine "blaue Welle", also einen deutlicheren Sieg der Demokraten, prophezeit hatten. Er würde womöglich argumentieren, sein Einsatz in den letzten Wahlwochen habe für seine Partei noch gerettet, was zu retten war. Aus seiner Sicht wäre auch das eine Bestätigung der rabiaten Wahlkampfrhetorik der vergangenen Wochen.

In den konkreten Auswirkungen ergäbe es wohl ein Patt. Politisch tot wäre Trump keinesfalls. Seine Möglichkeiten, Gesetze durch den Kongress zu bringen, wären aber deutlich eingeschränkt. Zudem hätten die Demokraten neue Gelegenheiten, die Russland-Affären aufs Tapet zu bringen – ebenso wie mögliche Ungereimtheiten bei der Wahlkampffinanzierung 2016. Was das alles für die Wahlen 2020 bedeuten könnte, wäre sehr unsicher: Eine Konfrontation zwischen Trumps Exekutive und der demokratischen Legislative wäre wahrscheinlich. Das könnte auch für die Demokraten riskant werden.

Neben den meisten Umfragen sprechen auch einige Daten aus dem "Early Voting" für das Szenario eines eng ausfallenden Resultats. Beide Parteien haben demnach eigene Anhänger stärker als bei früheren Wahlen zu einer frühen Stimmabgabe motivieren können.

Szenario 3: Die blaue Welle

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Die Wahrscheinlichkeit, dass Trumps Fans weinen müssen, liegt bei etwa 1/6.
Foto: Reuters / Jonathan Ernst

Mathematisch genauso wahrscheinlich wie Szenario 1 – 1/6 oder ein Sieg beim Würfelspiel – ist schließlich ein totaler Sieg der Demokraten. Medial werden dem Szenario dennoch geringere Chancen gegeben, zu groß scheint in manchen Bundesstaaten der Umfrageabstand im Senat, zu abhängig erscheint die Kammer von der Persönlichkeitswahl.

Sollte es trotzdem dazu kommen, wäre es für Trump wohl der erste Schritt zum Dasein als "lame duck": Viele Republikaner würden auch seinen Wahlkampfbeitrag anders bewerten als bisher. Sie würden ihre Verbindung mit dem Präsidenten neu durchdenken müssen, viele würden sich die Frage stellen, ob Trump ihnen am Ende mehr schadet als nützt. Der Wahlkampf für das Jahr 2020 würde wohl weniger harsch ausfallen als der in diesem Jahr. Die Republikaner müssten wieder stärker an die Mitte appellieren als an die eigene, relativ enge Basis.

Erklärt: Wie die Demokraten den US-Senat zurückerobern könnten
DER STANDARD

Dass Trump sich davon beeindrucken ließe, ist aber unwahrscheinlich. Er würde mangels Einfluss auf die Legislative wohl die Konfrontation mit den Demokraten suchen – vielleicht auch durch Krisen, die er selbst anfachen könnte. Seine Absetzung via Impeachment wäre trotzdem unwahrscheinlich: Zum einen, weil die Demokraten fürchten müssten, damit zu scheitern – für das Absetzungsurteil im Senat wären noch immer mehrere Republikaner nötig. Außerdem könnten sie aus dem Wahlergebnis schließen, dass ein amtierender Präsident Trump ihren Chancen 2020 zuträglicher wäre als ein abgesetzter.

Wer nach Anzeichen für dieses Szenario sucht, wird in manchen Wahlkreisumfragen der vergangenen Tage fündig, die für die Demokraten positiver waren als noch vor einigen Wochen. Zudem zeigen Erhebungen aus den Bundesstaaten Texas und Tennessee, die die Demokraten eigentlich schon fast abgeschrieben hatten, plötzlich wieder Chancen auf einen Wahlsieg. (Manuel Escher, 5.11.2018)