Nach 6. b4: Ein Bauernopfer für Entwicklungsvorsprung.

Nach 23…Kxb4: Die schwarze Majestät verspeist einen Bauern und begibt sich in Feindesland.

1/2-1/2 nach 34. g4+: Keine Seite kann mehr Fortschritte erzielen.

Caruana und Carlsen spielten zum fünften Mal remis.

London – Tag für Tag scheinen mehr Zuschauer zur WM nach London zu strömen. Ein Sitzplatz im Livestudio der Kommentatorinnen Anna Rudolf und Judit Pólgar ist inzwischen kaum mehr zu ergattern, auch im Pressezentrum ist jeder Platz besetzt. Im Auditorium, wo man die beiden Spieler durch eine Glasscheibe betrachten kann, ist die Anwesenheit pro Person auf 30 Minuten begrenzt worden. Kiebitzen im Schichtbetrieb, sozusagen.

Der Druck steigt

Je länger die Remisserie zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana dauert, desto mehr Spannung staut sich an, desto dringender will die Schachwelt den großen Knall, der einen Spieler in Führung und den anderen in Zugzwang bringt. 2016 in New York war es erst in Partie acht so weit: Der ungeduldig werdende Carlsen überzog und verlor. Die Pressekonferenz danach floh er, weil er nicht auf den Sieger warten wollte.

Es scheint so, als ob Magnus Carlsen aus dieser Erfahrung gelernt hätte. Zumindest äußerlich lässt er sich keine Ungeduld mehr anmerken, nicht einmal die verpassten Chancen in Runde eins nimmt er schwer. "Meine Chancen werden kommen", diese Sicherheit schwitzt der Champion geradezu aus. Den Druck soll Caruana haben, der Herausforderer, der etwas zeigen muss, der aktiv werden muss. Schließlich darf sich der US-Amerikaner kaum auf das Tiebreak einlassen, das ihn beim Stand von 6:6 nach zwölf Partien erwarten würde. Nicht gegen das Schnellschach-Monster Magnus Carlsen.

Der österreichische Großmeister Markus Ragger analysiert die fünfte Partie der Schach-WM 2018.
Österreichischer Schachbund

Ganz in diesem Sinne zeigt Caruana zu Beginn dieser fünften Partie, dass er sich etwas vorgenommen hat. Im sechsten Zug eines weiteren Rossolimo-Sizilianers verzichtet er auf positionelle Pläne und steckt stattdessen mit dem Flügelgambit 6. b4!? einen Bauern ins Geschäft.

Das sitzt. Der Zug sieht nach Kaffeehausschach aus, nach romantischem Schachzeitalter, nach Hop oder Drop. Hat Caruana den Tipp des Präsidenten der jamaikanischen Schachföderation beherzigt, der dem Herausforderer geraten hatte, Carlsen einen schachlichen Schlag in den Solar Plexus zu verpassen?

Wer einen solchen Schlag empfängt, der knickt üblicherweise nach vorne ein. Carlsen hingegen lehnt sich demonstrativ entspannt zurück, als befinde er sich in seinem höchstpersönlichen Patschenkino. Er zeigt so demonstrativ, dass er sich in der von seinem Herausforderer gewählten Variante wohl fühlt, dass viele sich fragen, ob das nur Show ist; ob dem Weltmeister innerlich ganz anders geworden ist, weil Caruana ihn genau auf dem falschen Fuß erwischt hat; ob er diese Tatsache durch seine zur Schau gestellte Zufriedenheit nur überspielen will.

Carlsen kontert

Schach ist allerdings nicht Poker. Psychologie spielt eine Rolle, die Wahrheit aber liegt auf dem Brett, das für beide Spieler ebenso einsehbar ist wie für die Millionen per Internet zugeschalteten Kiebitze. Und auf dem Brett muss Fabiano Caruana zu seinem Missvergnügen bald sehen, wie der Weltmeister einen starken Zug nach dem anderen spielt, ohne dafür besonders viel Zeit zu verbrauchen. Wer hat hier wen überrascht?

Bald hat Caruana den Bereich seiner unmittelbaren Vorbereitung verlassen und findet sich in einer Stellung wieder, in der eher er derjenige ist, der aufpassen muss. Den Damentausch konnte er nicht verhindern, mit romantischem Schach wird es trotz Flügelgambit heute also nichts. Im Endspiel, Carlsens natürlichem Habitat, hat der Herausforderer bald einen Bauern weniger. Allerdings steht der König des Schwarzen exponiert, und Caruana versteht das zu nutzen, um das Gleichgewicht zu wahren.

Unter Aufwendung einer größeren Menge Bedenkzeit verteidigt der Weiße sich so präzise, dass auch die mitrechnenden Computerprogramme nichts auszusetzen haben. Einige Bauern verschwinden vom Brett, Carlsens Springer muss zurück auf die Grundreihe. Das genügt Caruana, um sich den Bauern, den Schwarz ihm abgeluchst hatte, wieder zurückzuholen.

Nach 34 Zügen ist in einem nun ausgeglichenen Endspiel nicht mehr viel los, das fünfte Remis ist unterschriftsreif.

Das größte Idol

In der Pressekonferenz sind beide Spieler dann bemüht, nicht zu viel über ihre Vorbereitung oder ihre Zufriedenheit mit dem bisherigen Matchverlauf zu verraten. Abseits des Brettes gewinnt die Psychologie auch im Schach an Bedeutung.

Als ein Journalist von den beiden Spielern wissen will, wer ihre schachlichen Idole seien, spricht Caruana über Bobby Fischer. Carlsen hingegen redet über Carlsen: Er selbst sei sein größtes Idol, sagt der Norweger, genauer gesagt, sein jüngeres Selbst, mit etwa 23 Jahren. Damit hat der Weltmeister an diesem Abend die Lacher auf seiner Seite, wenngleich angenommen werden darf, dass er seine Aussage durchaus ernst meint.

In Runde sechs und sieben wird Magnus Carlsen zweimal hintereinander die weißen Steine führen. Ein mentaler Besuch von seinem 23-jährigen Selbst wäre dem 27-Jährigen dann vermutlich nicht unangenehm. Am Freitag um 16 Uhr MEZ beginnt die sechste Partie, Partie sieben folgt nach einem Ruhetag am Sonntag zur selben Uhrzeit. (Anatol Vitouch aus London, 15.11.2018)

Die Notation der fünften Partie der Schach-WM am Donnerstag in London:

Weiß: Fabiano Caruana (USA) – Schwarz: Magnus Carlsen (NOR) 0,5:0,5
Zwischenstand nach fünf Partien: 2,5:2,5

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 g6 4.0-0 Lg7 5.Te1 e5 6.b4 Sxb4 7.Lb2 a6 8.a3 axb5 9.axb4 Txa1 10.Lxa1 d6 11.bxc5 Se7 12.De2 b4 13.Dc4 Da5 14.cxd6 Le6 15.Dc7 Dxc7 16.dxc7 Sc6 17.c3 Kd7 18.cxb4 Ta8 19.Lc3 Kxc7 20.d3 Kb6 21.Ld2 Td8 22.Le3+ Kb5 23.Sc3+ Kxb4 24.Sd5+ Lxd5 25.exd5 Txd5 26.Tb1+ Kc3 27.Txb7 Sd8 28.Tc7+ Kxd3 29.Kf1 h5 30.h3 Ke4 31.Sg5+ Kf5 32.Sxf7 Sxf7 33.Txf7+ Lf6 34.g4+