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Theresa May muss um ihren Posten bangen.

Foto: Reuters/PETER NICHOLLS

Auf die Unterstützung des Boulevardblatts Daily Mail konnten sich die harten EU-Feinde stets verlassen. Unermüdlich warb das Zentralorgan des reaktionären Kleinbürgers unter seinem Chefredakteur Paul Dacre für den Austritt Grossbritanniens und, seit der Entscheidung im Juni 2016, für den härtestmöglichen Brexit. Wer diesem im Weg stand, wie Richter des High Court oder konservative Europafreunde, wurde auf der Titelseite als "Volksfeind" denunziert.

Seit Dacres Rückzug zugunsten des Liberalkonservativen George Grieg hat sich das Blatt gewendet. Am Freitag nahm die Zeitung auf der Titelseite jene Konservativen ins Visier, die Premierministerin Theresa May per Misstrauensvotum stürzen wollen. "Haben diese eitlen Pfaue den Verstand verloren?", lautete die Schlagzeile. Es fehlten nur die Beweisfotos von Brexit-Ultras wie Jacob Rees-Mogg oder Steven Baker, denen tatsächlich eine gewisse Eitelkeit anhaftet.

48 Unterstützer erforderlich

Um die angestrebte Abstimmung über ihre Parteivorsitzende herbeizuführen, müssen sich 15 Prozent der Tory-Unterhausfraktion, also 48 Hinterbänkler schriftlich beim Fraktionskollegen Graham Brady melden, dem Leiter des zuständigen Ausschusses "Komitee 1922". Schon seit Monaten säen die ewig Unzufriedenen Gerüchte darüber, dass bereits mehr als 40 Briefe in Grahams Safe ruhten.

Großspurig kündigten Rees-Mogg und Baker am Donnerstag an, sie wollten den Mißtrauensvoten nun ihre eigenen und die ihrer Gesinnungsgenossen hinzufügen. Bis Freitag nachmittag freilich schien das Quorum nicht zustande gekommen zu sein, britische Medien zählten 21 Putschisten. Komiteechef Brady blieb schweigsam.

Gut möglich, dass Anfang kommender Woche abgestimmt wird, schließlich lassen sich weitere drei Dutzend Ewig-zu-kurz-Gekommene in der 315 Menschen starken Fraktion rasch finden. Deutlich wurde am Freitag aber auch: Die hartnäckig um ihr Amt und den vorläufigen Austrittsvertrag – "die richtige Lösung für unser Land" – kämpfende Regierungschefin genießt unter stilleren Fraktionsmitgliedern durchaus Rückhalt. Viele Mainstream-Konservative haben von den Umtrieben der nationalistischen Parteirechten die Nase voll.

Gove löst Raab ab

Dass Brexit-Minister Dominic Raab nach knapp fünf Amtsmonaten am Donnerstag zurückgetreten war, hatte May in die Krise gestürzt. Zum Nachfolger wollte die Regierungschefin den Brexit-Vormann und Umweltminister Michael Gove bestellen. Doch dieser kam mit Bedingungen, strebte neue Verhandlungen mit Brüssel an. May lehnte das Ansinnen ebenso ab wie den Wunsch von Entwicklungshilfeministerin Penelope Mordaunt, für die im Dezember anstehende Parlamentsabstimmung solle die kollektive Regierungsdisziplin außer Kraft gesetzt werden.

Am Freitag verharrten beide Minister in ihren Ämtern – vielleicht ein Zeichen dafür, dass der backlash gegen die Extremposition der EU-Feinde Wirkung zu zeigen beginnt. Raabs Posten besetzte die Premierministerin am Freitag nachmittag mit dem unauffälligen Gesundheits-Staatssekretär Stephen Barclay. Anstelle der ebenfalls zurückgetretenen Sozialministerin Esther McVey holte sie die frühere Innenministerin Amber Rudd ins Kabinett zurück. Das politische Schwergewicht gehört zu den Befürwortern eines weichen Brexit, also auch des vorläufigen Austrittsvertrages. Damit verändert sich die Balance im Kabinett zuungunsten der harten Brexiteers.

Labour-Spitze lehnt Zusammenarbeit ab

Hinter den Kulissen hat Mays Team damit begonnen, die Position von Hinterbänklern der Labour-Opposition auszuloten. Die Parteispitze um den Vorsitzenden Jeremy Corbyn, einen eingefleischten EU-Skeptiker, und den Brexit-Sprecher und Europafreund Keir Starmer will das 585-Seiten-Dokument sowie die siebenseitige Erklärung zur zukünftigen Zusammenarbeit auf jeden Fall ablehnen. Die Arbeiterpartei spricht von einem "schlechten Deal", der nicht annähernd die bisherigen Vorteile der EU bringe.

Doch was geschieht, wenn das Unterhaus im Advent – als Termin wird 10. Dezember genannt – die Vereinbarung der Regierung mit Brüssel tatsächlich ablehnt? Labour will dann Neuwahlen, notfalls auch eine zweite Volksabstimmung herbeiführen, wie sie der frühere Labour-Premier Tony Blair fordert. Doch sind beide Auswege ohne Regierungsunterstützung versperrt. Premier May wiederholt gebetsmühlenartig: "Ein zweites Referendum wird es nicht geben."

Stattdessen stünde die Möglichkeit eines Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung am Horizont. Dies bereitet vielen Labour-Abgeordneten Kopfzerbrechen. Im kleinen Kreis sprach beispielsweise die einflußreiche frühere Staatssekretärin Margaret Hodge von ihren Zweifeln. Hingegen scheint das kleine Häuflein von rund zehn Brexit-Befürwortern in der Labour-Fraktion die Haltung der Tory-Ultras zu teilen. Er selbst werde nicht für Mays Deal stimmen, betont EU-Feind Graham Stringer: "Und bisher habe ich niemanden gefunden, der dazu bereit wäre."

EU rechnet mit Scheitern

Auf EU-Ebene rechnet man wegen der Unklarheiten in London mit allem. Ein rascher Sturz Mays einerseits sei ebenso möglich wie die Ablehnung im Unterhaus. Auf der anderen Seite hofft man nach wie vor, dass May sich letztlich doch durchsetzen werde.

"Wir stehen jetzt an einem kritischen Punkt", sagt Kanzler Sebastian Kurz bei einem Besuch in Brüssel. Es sei völlig offen, wie die Abstimmung in London ausgehe. Er hatte sich in seiner Eigenschaft als derzeitiger EU-Ratspräsident mit Brexitchefverhandler Michel Barnier, dem ständigen Ratschef Donald Tusk und Kommissionspräsident Tusk getroffen. Sie stimmten sich für den Brexit-Sondergipfel am 25. November ab.

Das Treffen der Staats- und Regierungschefs werde jedenfalls stattfinden, sagte der Kanzler. Ein "harter" ungeregelter Brexit müsse auf jeden Fall verhindert werden. Das würde vor allem der britischen Bevölkerung "ganz massiv schaden". Eine Nachverhandlung über Teile des Vertrages, wie sie Hardliner in London wollen, schließt man in EU-Kreisen jedenfalls aus: "Das wäre absurd" nach 17 Monaten der Verhandlungen.

Ungeachtet dessen bereitet man sich sowohl in der Kommission wie im EU-Parlament wie in den Hauptstädten auf das Szenario vor, dass der Brexitvertrag abgelehnt wird. In diesem Fall könnten die Staats- und Regierungschefs die Frist des EU-Austritts von Großbritannien über den 29. März 2019 hinaus zu verschieben.

Das wäre dann das wahrscheinlichste Szenario, sollte es nach einem Sturz Mays in Großbritannien etwa ein zweites Referendum geben. (Sebastian Borger aus London, Thomas Mayer aus Brüssel, 16.11.2018)