Wladimir Putin (li.) im Theater. Doch auch wenn er nicht selbst unter den Zuschauern ist, hat er russische Regisseure im Blick. Kirill Serebrennikow etwa steht aktuell vor Gericht.

Foto: AFP / Sputnik / Alexei Druzhinin

Der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues am Podium.

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Der belgische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui am Podium.

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Die Gründerin von Cirkus Cirkör, Tilde Björfors, am Podium.

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Die zeitgenössischen Zirkusmacher Circus Cirkör beim Europäischen Theaterpreis.

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Ibsens "Der Volksfeind" in der Inszenierung des polnischen Regisseurs Jan Klata.

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Jan Klata am Podium.

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Valery Fokin, der Gewinner des Hauptpreies, am Podium.

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Was macht das europäische Theater zwischen Premierendruck, Kosteneinsparungen und der #MeToo-Debatte? Es feiert sich. In Sankt Petersburg wurde vergangene Woche der Europäische Theaterpreis vergeben. Ob die Metropole am Fluss Newa deshalb für alle jene, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, ein seliger Schlupfwinkel war, ist aber fraglich.

Einerseits war alles wie immer. Die Preise für Innovation und neue Formen gingen an das Superfood des zeitgenössischen Theaters, an Perfomances, Stückeentwickler und das Publikum einbeziehende Theaterformate.

Andererseits stellte sich eine Frage, die in der Vergangenheit nicht thematisiert werden musste: Würde es beim Event möglich sein, offen über die Regierung des Gastgeberlandes Russland zu sprechen? Über Präsident Wladimir Putins repressive Politik – im Kunstbereich, aber auch außerhalb dessen?

Warten auf Milo

Das war nicht nur prinzipiell, sondern ganz konkret von Interesse. Denn einerseits durfte der politische Schweizer Theatermacher Milo Rau seit seinem Theater- und Filmprojekt Die Moskauer Prozesse (2013) nicht mehr nach Russland einreisen. Er war aber unter den heurigen Preisträgern. Wie würde die Sache ausgehen?

Andererseits wird der Preis von höchsten europäischen Institutionen wie dem EU-Parlament mitgetragen. Zwar wurde von offizieller Seite nicht über das Thema gesprochen, doch für den letzten Tag stand ein Gespräch mit Rau auf dem offiziellen Programm. Vielleicht würden sich die Unkenrufe als falsch herausstellen.

Also einmal abwarten, während vorerst groß russisches Programm aufgefahren wurde. Gleich drei Sankt Petersburger Theaterdirektoren durften mehrfach Stücke vorstellen. Man hätte gerne und ohne Verlust auch weniger genommen. Sie wirkten nämlich für an deutschsprachiges Regietheater gewohnte Augen behäbig. Die Phrase "Triumph der Ausstattung" ging einem durch den Kopf.

12 Stunden Theater täglich

Zwölf Stunden Theater täglich und das fünf Tage lang: Das ist der Europäische Theaterpreis, wenn man ihn von vorne bis hinten mitmacht. Warten abends sechs Stunden lang Aufführungen, sind es am Tag sechs Stunden Gespräche.

"Im Supermarkt kaufen wir immer wieder das Gleiche. Aber im Theater riskieren wir, das Unbekannte kennenzulernen", sagte da etwa der mit einem Innovationspreis ausgezeichnete Portugiese Tiago Rodrigues, und man fühlte sich als Zuhörer gleich irgendwie heldenhaft. Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui machte sich Sorgen um unsere Kultur und Tradition. Die sei "in Gefahr wegen unserer neuen Beziehung zum Fernsehen". Der schwedische Cirkus Cirkör schließlich versuchte, der Migrationsdebatte mit Mut neue Denkanstöße zu geben. Zirkus ist schließlich auch Risiko!

Das war ganz nett und festivaltauglich. Ein Querschnitt dessen, was an neuen Theaterformen zurzeit angesagt ist. Aber in diesem Jahr war das ein Nebenschauplatz. Nicht nur weil der Speisesaal mitunter voller war als der Vortragssaal. Spannend war die Sache mit der Politik. Immerhin war schon Halbzeit und ein klares Statement noch nicht in Sicht.

Eine erste politische Geste

Dann die erste große politische Geste. Jan Klata stach mit seinem Volksfeind ins Wespennest. Als einige vor dem insgesamt mediokren Treiben schon geflüchtet waren, ließ der Regisseur seinen Stockmann im Publikum nach jemandem fragen, der den folgenden polnischen Text ins Russische übersetzen könnte. Womöglich hat der Freiwillige bald ein mulmiges Gefühl bekommen. Denn Klatas Stockmann setzte zu einer scharfen Kritik an der Politik in seiner Heimat an. Und der Gast musste den Monolog in Ichform auf Russisch wiederholen. Ein so cleverer wie mutiger Einfall Klatas, der einen beklommen die Kraft des Moments spüren ließ.

War nun ein Bann gebrochen. Würde Rau vielleicht doch kommen? Zum offiziellen Meeting am Samstag stand man jedenfalls vergeblich vor einer versperrten Tür.

Später erfuhr man, dass Rau wegen eines nicht erteilten Visums nicht anreisen konnte. In einem Brief griff er die Organisatoren an. "Der Europäische Theaterpreis kommt nach Russland, und wir verlieren über Kirill Serebrennikow offiziell kein Wort", schreibt Rau. Wie könne man die Kraft und die Freiheit des Theaters in einem Land feiern, in dem kritische Künstler wie Kirill Serebrennikow inhaftiert werden? Wie könne der Preis da schweigen?

Dem Geld nach

Dass ein Preis, der von der EU-Kommission gegründet wurde, sich auf diese Weise mit einer autoritären Macht wie Russland arrangiert, irritiert einige. Tut er das, weil er Zeichen eines Kontakthaltens zwischen Europa und Russland sein will, wie manche meinen? Kritiker sagen, weil dort Geld sei.

Zahlen sollen die Sause nämlich andere. Hotels, Buffets und Vorstellungen für hunderte eingeladene Künstler, Journalisten und Funktionäre kosten einiges, den Löwenanteil stemmte Russland. Weil der Gastgeber zudem den Gewinner des Hauptpreises mitbestimmt, sehen viele auch die Entscheidung für Valery Fokin als finanziell motiviert. Der Regisseur und Leiter des Alexandrinsky-Theaters in Petersburg gilt als putinnah.

Der Theatertross ist wieder abgezogen, das Buffet verdaut. Der Europäische Theaterpreis hat einige Baustellen, die Frauenquote in den Gremien sowie unter den Prämierten ist seit je schlecht. Die Vorgänge in Russland stellen sein Ansehen aber besonders infrage. (Michael Wurmitzer aus Sankt Petersburg, 20.11.2018)