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Werden Familien mit vielen Kindern künftig im Regen stehengelassen? Die Reform der Mindestsicherung könnte bald stehen.

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Österreichs Sozialsystem wird umgebaut. Bei der Mindestsicherung gibt es bereits eine grundsätzliche Einigung der Regierungsparteien auf eine Neugestaltung, ein konkreter Gesetzesvorschlag ist in Ausarbeitung. Bei der Notstandshilfe, die in ihrer bisherigen Form abgeschafft und in einem "Arbeitslosengeld neu" aufgehen soll, dürfte der Prozess noch länger dauern.

Der Soziologe Michael Fuchs vom Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien sagt, dass einige der Aspekte der Vorhaben, insbesondere in Kombination, zu sozialpolitisch problematischen Verwerfungen führen könnten. Ein bisher wenig diskutierter Punkt in der Debatte betrifft laut Fuchs Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern. Für einen Teil von ihnen könnten die Reformen, so sie wie angekündigt kommen, erhebliche Schlechterstellung bringen, sagt Fuchs.

Worum es konkret geht: Zu den von der Regierung fixierten Eckpunkten bei der Mindestsicherung gehört, dass künftig nur Anspruch auf die Sozialleistung haben soll, wer mindestens fünf Jahre in Österreich gelebt hat.

Ein Rückfall

Grundsätzlich gibt es bereits eine Fünfjahresfrist für Ausländer. Diese wird aber für EU-Bürger aus anderen Ländern durchbrochen. In Wien reicht für diese Gruppe ein Monat Arbeit aus, um bei Jobverlust für sechs Monate Mindestsicherung erhalten zu können. Wer mehr als ein Jahr beschäftigt war, kann unbegrenzt Mindestsicherung beziehen, und zwar unabhängig von der Aufenthaltsdauer.

Sollten diese Regelungen fallen, würde auch für EU-Bürger die strikte Fünfjahresfrist gelten. Ungarn, Polen, Slowaken oder Deutsche, die drei oder vier Jahre in Österreich leben und arbeiten, hätten keinen Anspruch mehr auf Mindestsicherung. Sie könnten im Fall einer längeren Arbeitslosigkeit aktuell Notstandshilfe bekommen. Nur: Wird diese 2019 abgeschafft, wird auch dieser Weg versperrt. Die Betroffenen hätten wohl Anspruch auf Arbeitslosengeld (derzeit rund sieben Monate), danach bekämen sie nichts.

Im Regierungsprogramm wird diese Möglichkeit erwähnt: Es solle geprüft werden, ob "nach Ausschöpfung des Arbeitslosengeldanspruches in Österreich ein Rückfall in die ... sozialrechtliche Zuständigkeit des Herkunftslandes" möglich ist, heißt es dort.

Wie groß die Personengruppe ist, die das betreffen könnte, lässt sich derzeit nicht sagen. 417.000 Bürger aus anderen EU-Ländern arbeiten in Österreich. Allein im vergangenen Jahr sind 33.000 neu dazugekommen. In letzterer Zahl sind wohl auch Menschen enthalten, die schon länger hier leben. Ob eine Fünfjahresfrist für EU-Bürger europarechtskonform sein kann, ist sehr fraglich, sagt der Arbeitsrechtler Walter Pfeil von der Uni Innsbruck. Solange die neue Regelung nicht genau vorliegt, lässt sich das nicht sagen.

Weniger ab dem dritten Kind

Der Soziologe Fuchs, der intensiv zu Mindestsicherung und Notstandshilfe geforscht hat, macht auf noch einen seiner Ansicht nach kritischen Punkte aufmerksam. Teil der Einigung zwischen ÖVP und FPÖ ist, dass es künftig für Familien mit vielen Kindern weniger Mindestsicherung geben soll.

Für einen einzelnen Bezieher soll es im türkis-blauen Modell 863,04 Euro geben. Für das erste Kind sind noch 25 Prozent dieses Richtsatzes vorgesehen, das sind 215 Euro.Beim zweiten Kind sollen es nur noch 15 Prozent, also 129 Euro sein. Ab dem dritten Kind gibt es für jedes weitere nur noch fünf Prozent – 43 Euro. Für Alleinerziehende wird es pro Kind einen degressiv gestalteten Bonus geben. Das dämpft den Einschnitt.

Fuchs spricht dennoch von einer "dramatischen" Kürzung für Familien mit drei oder mehr Kindern. In Wien, wo die meisten Mindestsicherungsbezieher leben, bekommen Familien derzeit für jedes Kind 27 Prozent des Basissatzes, was 233 Euro entspricht. Laut der Stadt beziehen 5500 Familien mit zwei Elternteilen und drei oder mehr Kindern Mindestsicherung. Sie wären also voll von der Kürzung betroffen.

Andere Varianten

Die Regierung zielt mit der Reform auf ausländische Vielkinderfamilien ab, sie sollen weniger bekommen. Zugleich will sie Anreize für die Arbeitsaufnahme schaffen. Für manche Großfamilien kann die derzeitige Regelung tatsächlich bedeuten, dass sie mehr Geld aus der Mindestsicherung erhalten, als wenn ein oder beide Elternteile berufstätig wären, sagt Fuchs. Doch es gäbe sozial verträglichere Möglichkeiten, diesem Phänomen zu begegnen.

In der ursprünglichen Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zur Mindestsicherung ist vorgesehen, dass es für jedes Kind 18 Prozent vom Basissatz gibt. Statt der starken Kürzung ab dem dritten Kind wäre es – wenn schon – sinnvoller, für jedes Kind moderat weniger zu geben, sagt Fuchs. Im Falle Wiens zum Beispiel könnte man den Kinderzuschlag zwischen den 18 und 27 Prozent ansetzen. (András Szigetvari, 24.11.2018)