Die katholische Theologin Helena Stockinger plädiert für "differenzsensiblen Umgang" im Zusammenhang mit Religion in Bildungseinrichtungen.

Foto: Daniel Hinterramskogler

Die Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers", organisiert von Philosoph Konrad Paul Liessmann in Kooperation mit dem STANDARD, stellt in diesem Semester die Frage "Wie viel Gott braucht die Schule? Über das Verhältnis von Religion und Bildung". Helena Stockinger hat die Frage auf den Kindergarten ausgeweitet und eine Studie über den Umgang mit religiöser Differenz in zwei Wiener Kindergärten – einer in katholischer, einer in islamischer Trägerschaft – durchgeführt. Die Theologin referiert am Mittwoch, 5. Dezember (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D, Universitätsstraße 7) über "Schule – Raum für religiöse Differenz?".

STANDARD: Was waren die größten Unterschiede in den von Ihnen analysierten Kindergärten? Im katholischen waren 46 Prozent der Kinder katholisch, 17 Prozent muslimisch, 17 Prozent ohne Bekenntnis, 13 Prozent orthodox und je zwei Prozent Hindus und Sikhs. Im islamischen Kindergarten gab es 92 Prozent muslimische und acht Prozent katholische Kinder. Die Ergebnisse sind also nicht repräsentativ, von den qualitativen Fallstudien kann nicht auf andere Kindergärten geschlossen werden.

Stockinger: Mich überraschten weniger die Unterschiede als die Ähnlichkeiten. Die Leitungen beider Kindergärten waren gegenüber religiöser Vielfalt positiv aufgeschlossen. Dennoch war im Alltag in beiden eine Religion dominant, während andere Religionen kaum erkennbar wurden. Kinder, die nicht der Mehrheit angehörten, erlebten ihre eigene Religion nur als Defizit, da manche nicht bei allen religiösen Angeboten teilnehmen durften. Während Kinder, die der Mehrheit angehörten, über ihre Religion – sofern es sie interessierte – sprachen, äußerten sich jene Kinder kaum über Religion, die nicht der Mehrheit angehörten.

STANDARD: Wo Differenz ist, sind Konflikte meist nicht weit. Welche gab es in diesen Kindergärten?

Stockinger: Ein Konflikt ergab sich etwa, weil ein muslimisches Mädchen beim Martinsfest nicht dabei war und christliche Kinder es am nächsten Tag fragten, warum sie nicht dabei gewesen sei. Das Mädchen sagte, dass sie doch dabei gewesen sei. Ein Konflikt, in dem der Wunsch nach Zugehörigkeit dieses Kindes deutlich wurde. Andere Herausforderungen ergaben sich, weil Kinder, die aus religiösen oder anderen Gründen das angebotene Essen nicht essen wollten, nicht immer eine angemessene Alternative bekamen. Auch die Praxis, ein Kreuzzeichen zu machen, führte zu einer kurzfristigen Irritation. Auf die Bitte einer muslimischen Mutter, ihr Kind solle kein Kreuzzeichen machen, wurde sie auf andere Kindergärten verwiesen, wo dies nicht üblich war. Letztlich blieb dieses Kind – ohne Zwang, ein Kreuzzeichen zu machen.

STANDARD: Eine Ihrer Beobachtungen war, dass die Kommunikation über religiöse Differenz weitgehend vermieden wird. Warum?

Stockinger: Die Komplexität im Kindergarten ist bereits so hoch, dass durch keine oder geringe Kommunikation versucht wird, Konflikte zu vermeiden. Andere fürchten, dass Kinder ungleich behandelt werden, wenn religiöse Differenz thematisiert wird. Manchmal wird auf die religiöse Trägerschaft oder bisherige Traditionen verwiesen, um die Dominanz einer Religion zu rechtfertigen. Manche Pädagoginnen meinen, über zu wenig Wissen zu verfügen, um religiöse Unterschiede zu thematisieren.

STANDARD: Ist das "religionsfreie" und wohl konfliktvermeidend gemeinte Feiern eines "Sonne, Mond und Sterne"-Festes statt Weihnachten denn eine adäquate Form des Umgangs mit religiöser Differenz? Werden Kinder da nicht intellektuell unterfordert? Die merken doch, wenn rundherum alle Welt gerade Weihnachten feiert ...

Stockinger: Ja, ich denke, dass es bei Festen wichtig ist, religiöse Hintergründe zu thematisieren und den Kindern auch den tatsächlichen Grund für das Feiern der Feste zu erklären. Eine Reduzierung des Festes würde diesem die eigentliche Bedeutung entziehen. Außerdem zeigen sich gerade beim Feiern von Festen religiöse Unterschiede. Wie Organisationen mit diesen umgehen, ist für Kinder und Jugendliche eine wichtige Lernchance für den Umgang mit religiöser Differenz.

STANDARD: Wie könnte oder sollte ein produktiver Umgang mit religiöser Differenz aussehen?

Stockinger: Ein produktiver Umgang bedeutet für mich zuerst, religiöse Differenz und unterschiedliche Weltdeutungen wahrzunehmen, ohne Personen darauf festzuschreiben. Werden Unterschiede nicht wahrgenommen, werden häufig diejenigen übersehen, die sich von der Mehrheit unterscheiden. Hier gilt es auch Machtstrukturen und Dominanzverhältnisse im Blick zu haben: Wer trifft Entscheidungen? Für wen? Wer wird nicht berücksichtigt? Gegebene politische und gesellschaftliche Tendenzen können es erschweren oder erleichtern, einen differenzsensiblen Umgang in Bildungseinrichtungen zu entwickeln. Heute wird Integration oft mit Anpassung verwechselt. Aussagen wie "Bei uns ist religiöse Differenz kein Thema, alle feiern ganz normal beim Osterfest mit" verweisen auf diese oft für selbstverständlich genommene Anpassung. Integration hat aber nicht das Ziel, dass Menschen in ihrer Besonderheit nicht mehr auffallen. Ziel sollte sein, dass sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit zugehörig fühlen und zu einem gemeinsamen Leben in Vielfalt beitragen dürfen.

STANDARD: Kindergärten müssten zu "Safe Spaces" entwickelt werden, sagen Sie. Was heißt das?

Stockinger: Ein differenzsensibler Umgang ist in Kindergärten und Schulen nicht alleine die Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen. Vielmehr braucht es in diesen Bildungsinstitutionen eine Kultur, die Personen in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennt. Kinder brauchen Orte, an denen sie als verletzliche Wesen ernst genommen werden und wo sie sich zugehörig fühlen und so angenommen werden, wie sie sind. Die Frage der Zugehörigkeit ist vor allem für diejenigen relevant, deren Zugehörigkeit umstritten ist oder abgelehnt wird. Ein "Safe Space" bietet Formen der Zugehörigkeit für alle Kinder an. Kindergärten und Schulen können Kommunikationsräume sein, in denen religiöse Differenz erkannt und thematisiert werden darf. Das umfasst auch, Konflikte zuzulassen und mit den Kindern und Jugendlichen zu bearbeiten, auch wenn das nicht immer einfach ist.

STANDARD: Wie kann unter dem Regime der "religiösen Differenz" das Recht jener Kinder, die bewusst keine Religionszugehörigkeit haben (wollen), auf Freiheit von Religion gewährleistet werden?

Stockinger: Das Recht auf religiöse Differenz muss selbstverständlich mit dem Recht auf unterschiedliche Weltdeutungen ergänzt werden. Differenzsensibler Umgang möchte dafür sensibilisieren, dass religiöse Unterschiede und unterschiedliche Weltdeutungen für Menschen bedeutsam sein können. Es sollen Möglichkeiten eröffnet werden, über diese Unterschiede ins Gespräch zu kommen und mit- und voneinander zu lernen. Das geht nur, wenn sich Menschen mit ihren unterschiedlichen Meinungen und Einstellungen einbringen dürfen und auch erkennbar werden können. Kindergärten und Schulen sind wichtige Lernorte, um ein respektvolles Leben in Vielfalt einzuüben. Das kann auch bedeuten, eine andere Religion oder Weltdeutung in ihrer für mich bestehenden Fremdheit zu respektieren.

STANDARD: Provokant gefragt: Muss es in Kindergärten und Schulen überhaupt Religion geben? Warum nicht sagen: Wir sind ein säkularer Staat, Religion ist Privatsache, hat dort also nichts verloren?

Stockinger: Es gibt Religion in Kindergärten und Schulen, da Kinder, Jugendliche, Pädagoginnen und Pädagogen mit unterschiedlichen religiösen Einstellungen und Weltdeutungen sie besuchen. Es stellt sich somit nur die Frage, ob diese im Kindergarten oder der Schule erkennbar werden dürfen. Hier möchte ich betonen, dass Religion nicht nur Privatsache ist, sondern konstruktiv zum gesellschaftlichen Zusammenleben beiträgt, in fundamentalistischen Formen aber auch destruktive Formen annehmen kann. Kindergärten und Schulen sind wichtige Bildungsorte, um Wissen über Religionen zu erwerben und in Auseinandersetzung mit Religion eine eigene reflektierte Haltung zu dieser zu entwickeln. Wenn ich Religion dort verbanne, wird das Thema Religion nicht verschwinden. Es wird nur nicht thematisiert.

STANDARD: Was halten Sie in diesem Zusammenhang vom Kopftuchverbot, das die Regierung für Kindergärten beschlossen hat? Ist sie damit in die "Dominanzfalle", vor der Sie warnen, getappt?

Stockinger: Unter "Dominanzfalle" verstehe ich die selbstverständliche Annahme, dass sich Personen, die zu "den Anderen" gemacht werden, anpassen müssten. Es bedeutet, aus einer dominanten Haltung heraus zu wissen, was für "diese Anderen" am besten sei. Die Betroffenen kommen nicht zu Wort, stattdessen werden ihnen Gründe für ihre Verhaltensweisen zugeschrieben. Personen dürfen nicht in ihrer Besonderheit erkennbar werden. Kleidungsverbote wie das Kopftuchverbot gehen für mich klar in die Richtung einer Machtdemonstration und Dominanzhaltung, die auch mit Fokus auf ausschließlich eine Religion diskriminierenden Charakter hat. Für die Betroffenen kann sich die Frage stellen, inwiefern sie so akzeptiert und willkommen sind, wie sie sind. Wenn Kinder im Kindergarten so angezogen sind, dass das für ihre Entwicklung nicht förderlich ist, gilt es mit den Eltern ein Gespräch zu suchen, um die Beweggründe zu erfahren und gemeinsam eine für das Kind angemessene Lösung zu finden. (Lisa Nimmervoll, 3.12.2018)