Begonnen hat alles im Babyschwimmkurs. Heute misst Marlene Kahler 1,72 Meter und wiegt 60 Kilogramm. "Schwimmen gehört zum Leben dazu."

Foto: GEPA pictures/ Christian Walgram

Liebe Lehrer! Wenn Marlene Kahler mit Haube auf dem Kopf im Klassenzimmer auftaucht, dann tut sie das nicht, weil sie einfach nur cool ausschauen oder euch gar provozieren will. Marlene Kahler trägt die Haube, weil sie sich nicht verkühlen möchte. Dass zwischen Trainingsende und Unterrichtsbeginn oft zu wenig Zeit fürs Föhnen bleibt, ist nicht Marlenes Schuld. Um 9.30 Uhr steigt sie aus dem Becken, Duschen und Anziehen geht sich gerade noch aus bis zur ersten Schulstunde (9.45 Uhr), Föhnen ist in den meisten Fällen einfach nicht drin. Deshalb sind Marlenes Haare noch nass, und deshalb trägt sie ihre Haube.

Es schadet nicht, wenn das auch an dieser Stelle einmal festgehalten wird. Denn eine Verkühlung käme Marlene Kahler tatsächlich äußerst ungelegen. Die Schwimmerin würde Unterricht, würde Training, vielleicht sogar die erste Weltmeisterschaft ihres Lebens versäumen. Am Mittwoch wird ein Flugzeug mit Kahler sowie fünf weiteren österreichischen Schwimmerinnen und sechs Schwimmern in Wien abheben, am Donnerstag wird ein anderes Flugzeug mit dem zwölfköpfigen Team in Hangzhou landen. In der Hauptstadt der ostchinesischen Provinz Zhejiang beginnt am 11. Dezember die Kurzbahn-WM. Kahler geht über 200, 400 und 800 Meter Kraul sowie mit einer Kraulstaffel an den Start.

Neue Dimensionen

Die Stadt mit gut 9,2 Millionen Einwohnern und die globalen Titelkämpfe stellen für Marlene eine neue Dimension dar. Sie stammt aus Schwechat (18.026 Einwohner), wobei ja nicht einmal ganz Österreich (8,8 Millionen) an Hangzhou herankommt. Im Juniorenbereich hat Kahler schon eine Europameisterschaft bestritten, im Juli kraulte sie in Helsinki über 400 Meter zu Bronze. Ebenfalls zwei dritte Plätze, über 400 und 800 Meter, schauten bei den Olympischen Jugendspielen im Oktober in Buenos Aires heraus. Bei der WM in China strebt Marlene persönliche Bestzeiten an, angesichts der Nennlisten ist eine Finalteilnahme nicht auszuschließen.

Kahler glänzte auch bei den Jugendspielen.
Österreichischer Schwimmverband

"Ich finde es traurig, dass sich Österreich nur auf Fußball und Wintersport konzentriert", sagt Marlene Kahler. Sie will "beweisen, dass man es als Österreicherin auch anderswo an die Spitze schaffen kann". Schwimmen sei nicht irgendeine Sportart. "Schwimmen gehört zum Leben dazu", sagt Kahler. "Und jedes Kind sollte unbedingt schwimmen lernen."

Fräulein Marlenes Gespür für Wasser hat sich schon früh herausgestellt – beim Babyschwimmen, das dem Vernehmen nach für alle Beteiligten ein Hauptspaß war. Die Eltern, die Mutter Flugbegleiterin, der Vater Pilot, haben dem Töchterchen abwechselnd oder auch gemeinsam Gesellschaft geleistet, Marlene hat den Enten-, den Frosch- und den Delfinkurs absolviert und ist dann einfach weitergeschwommen, recht bald auch ohne Begleitung. Als Achtjährige bestritt sie ihre ersten Bewerbe für die SV Schwechat.

Hart, sehr hart

"Eigentlich bin ich schon ziemlich alt", bezieht sie sich auf ihre Wettkampferfahrung. Zunächst tat sie sich im Rückenschwimmen hervor, dann stieg sie aufs Kraulen um. Mit 14 übersiedelte sie ins Internat im Leistungszentrum Südstadt, die Oberstufe dauert fünf Jahre, Kahler geht in die vierte Klasse, sie bezeichnet sich als "durchschnittliche Schülerin". Im Sommer hat sie den Führerschein gemacht, das gibt ihr die Möglichkeit, bald wieder im Elternhaus in Schwechat zu schlafen und in die Südstadt zu pendeln.

Das Training ist hart, sehr hart. An vier Wochentagen wird nicht nur in der Früh (7.15 bis 9.30 Uhr), sondern auch am Nachmittag (14.15 bis 18.30 Uhr) trainiert. An zwei Tagen reicht das Morgentraining, sonntags ist frei. In Aufbauwochen kommt Kahler auf 65 bis 70 Trainingskilometer. "In Österreich", sagt sie, "nehmen nur wenige ein solches Pensum auf sich."

Die Trainingsgruppe in der Südstadt ist speziell, das liegt am ungarischen Coach Balázs Fehérvári, der seit vier Jahren im Leistungszentrum wirkt. "Unser Credo ist", sagt Kahler, "dass alles unter 200 Metern keine richtige Strecke ist. Schwimmen geht erst ab 200 Metern los." Fehérvári hatte in Ungarn die Weltrekordlerin Evelyn Verrasztó und weitere Stars unter seinen Fittichen. Wickel im österreichischen Verband haben ihn und auch Kahler nie tangiert. Seit Walter Bär als Sportkoordinator tätig sei, sagt sie, "klappt es organisatorisch wie am Schnürchen".

Rogan-Plakat als Ansporn

Kahler – 1,72 Meter groß und 60 Kilogramm schwer – nennt Mirna Jukic, die ihr einmal nach einem Kinderbewerb gratulierte, und Markus Rogan als Vorbilder. In der Südstadt geht sie oft an einem Plakat vorbei, auf dem Rogans größte Erfolge, die zwei Olympiasilbernen und der eine Weltrekord, ausgeschildert sind. "Das baut mich auf", sagt sie, "weil es zeigt, dass man es auch in Österreich an die Weltspitze schaffen kann." Unterstützung erfährt sie von der Sporthilfe, vom Team Rot-Weiß-Rot, vom Verband, vom Verein und vom Land Niederösterreich. Wenn ihr etwas abgeht, so ist das Konkurrenz im Training. Auf ihren Strecken kann ihr keine das Wasser reichen, also misst sie sich mittlerweile mit teils etwas jüngeren Burschen. "Denen geh' ich halt jetzt auf die Nerven."

Hangzhou ist quasi ein Nahziel, das Fernziel heißt Tokio, doch auch die Olympischen Spiele rücken näher. 2020 könnte ein aufregendes Jahr werden für Marlene Kahler, schon jetzt hat sie neben Olympia auch ihre Matura im Kopf – auf dem natürlich eine Haube sitzt, weil nach dem Training keine Zeit fürs Föhnen war. (Fritz Neumann, 3.12.2018)