Das Grundsatzgesetz zur Mindestsicherung neu ist soeben in Begutachtung gegangen. Für die Länder bleibt weiter Spielraum bei Zuschlägen, die sie gewähren können.

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Wie passt das zusammen: Caritas, Diakonie und andere NGOs kritisieren, dass die neue Mindestsicherung zu steigender Kinderarmut führen wird. Die Kinderzuschläge werden künftig degressiv gestaltet und stark gekürzt. So gibt es ab dem zweiten Kind nur noch 15 Prozent und ab dem dritten Kind nur noch fünf Prozent des Basisbetrags von 863 Euro.

Im Gegensatz dazu hat die türkis-blaue Regierung bei der Präsentation ihres neuen Modells vergangene Woche folgende Rechnung präsentiert: Ein Ehepaar, das ausreichend gut Deutsch spricht, mit drei Kindern, wird in Wien künftig 2.075 Euro Mindestsicherung beziehen. Aktuell bekommt die gleiche Familie "nur" 2.029 Euro in Wien. Nach der türkis-blauen Reform wird sie also etwas mehr und nicht weniger Geld erhalten.

Wer hat nun recht, die NGOs oder die Regierung? Die Antwort: An beiden Argumenten ist etwas dran. Die türkis-blaue Reform wird dazu führen, dass die Verluste, die Familien mit mehreren Kindern erleiden, kompensiert werden können, und zwar dann, wenn diese Familien entsprechend hohe Miet- und Heizausgaben vorweisen. Für diese Familien ändert sich in der Gesamtrechnung wenig, sie können sogar etwas dazugewinnen. So gesehen ist die Reform alter Wein in neuen Schläuchen.

Frage der Sachleistungen

Dort, wo das nicht der Fall ist, wo die Mietkosten niedrig sind, wird es nicht nur bei Vielkinderfamilien zu Einbußen kommen, auch Einkindfamilien oder Alleinerzieher können verlieren.

Um zu verstehen, warum, muss man sich die Sachleistungen näher ansehen, die bei der Mindestsicherung gewährt werden. Als Sachleistungen gelten vor allem die Ausgaben für Miete und Heizen. Hier wird die türkis-blaue Regierung entscheidende Veränderungen vornehmen: Künftig werden Menschen auf einen größeren Anteil der Mindestsicherung nur dann Anspruch haben, wenn sie Sachkosten in entsprechender Höhe haben.

Bei der Mindestsicherung neu sind von dem Basissatz, der Erwachsenen zusteht, also den 863 Euro, 40 Prozent für Sachleistungen reserviert. Aktuell sind das im Regelfall nur 25 Prozent in den Ländern. Die Länder können im neuen System eine höhere Mindestsicherung im Landesrecht vorsehen: Sie dürfen einen Zuschlag in Höhe von 30 Prozent gewähren. Aber auch dieser Zuschlag ist für Sachleistungen reserviert, nützt also nicht allen Familien.

Um zu verdeutlichen, worum es geht, eine Rechnung aus Wien. In der Hauptstadt leben immerhin gut 130.000 der rund 308.000 Mindestsicherungsbezieher, was rund 40 Prozent entspricht.

Wo Verluste entstehen

Nehmen wir an, das Paar aus dem Eingangsbeispiel mit den drei Kindern hat kein Lohneinkommen und beantragt Mindestsicherung in der Hauptstadt. Miet- und Energiekosten betragen 500 Euro.

Die beiden Erwachsenen würden derzeit je 647 Euro bekommen. Für die Kinder kommen 699 Euro dazu. Dann kommt noch Mietbeihilfe drauf, die die Stadt in diesem Fall aber nur in Höhe von 34 Euro gewährt, weil 25 Prozent von dem Betrag, der für die Erwachsenen ausbezahlt wird, schon als Beitrag zu den Wohnkosten gerechnet werden. Macht zusammen 2.029 Euro Mindestsicherung.

Künftig gibt es je Erwachsenen 604 Euro und 388 Euro für alle Kinder zusammen. Wie erwähnt sind 40 Prozent des Grundbetrags der Eltern für Sachkosten reserviert, das entspricht in diesem Fall 483 Euro.

Diese decken die Mietkosten der Familie im Beispiel in Höhe von 500 Euro bereits nahezu gänzlich ab. Sogar wenn Wien also den Zuschlag von 30 Prozent einführt, könnte diese Familie davon kaum profitieren, weil ihre Sachkosten schon gedeckt wären. Der 30-Prozent-Zuschlag bringt der Familie noch genau 17 Euro ein. Sie käme auf 1.613 Euro Mindestsicherung, würde also mehr als 400 Euro verlieren, wie der Soziologe Michael Fuchs vom Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung vorrechnet.

"Paradoxe" Regelung

Wenn die Familie 960 Euro für Miete und Energie bezahlt, kann sie den höheren Rahmen für Sachleistungen aber voll ausnutzen – dann gewinnt sie im neuen System dazu, so wie Türkis-Blau das vorrechnet. Hier wirkt sich ein Vorteil der neuen Regelung aus Sicht von manchen Familien voll aus: Der 30-prozentige Zuschlag für Sachleistungen wird nämlich auf jenen Bezug gewährt, den eine Familie insgesamt erhält, nicht nur die Leistungen an die Eltern, sondern auch an die Kinder werden also eingerechnet.

Dasselbe Prinzip – viele Kinder bedeuten weniger Geld, hohe Sachkosten bringen mehr – gilt für andere Familienkonstellationen auch. Ein Paar mit einem Kind gewinnt in Wien bei hohen Mietkosten von 900 Euro sogar fast 300 Euro an Nettobezug im neuen System dazu. Liegt die Miete bei nur 500 Euro, verliert die Familie 100 Euro.

Was ist mit Alleinerziehern?

Wie viele Menschen also im neuen System gewinnen oder verlieren, hängt stark von der Miethöhe ab. In einem Wiener Gemeindebau liegt der Brutto-Quadratmeterpreis (mit Betriebskosten) im Schnitt bei grob 7,7 Euro. Im Privatsektor sind die Preise darüber.

Die Stadt Wien hat ihrerseits bereits gerechnet und argumentiert, dass auch Alleinerzieher, für die es im neuen System eigentlich einen Bonus für jedes Kind gibt, wegen dieser neuen Regelung bei den Sachkosten insgesamt verlieren können.

Die erwähnten Beispielrechnungen sind stark vereinfacht, sie sollen nur eine Tendenz verdeutlichen. Sie gelten auch nur bei Familien, die ausreichend Deutsch sprechen. Auch andere Leistungen wie die Familienbeihilfe wurden nicht berücksichtigt, da ändert die Reform allerdings nichts. Bei Familien mit vier Kindern gibt es in jedem Fall finanzielle Verluste, diese werden auch von höheren Mietkosten nicht mehr kompensiert.

Was ist aber der tiefere Sinn der Reform, wenn man bei Kindern kürzt, aber diese Kürzung vielen Familien via Sachleistungen wieder retourniert? Der Arbeits- und Wirtschaftsrechtler Walter Pfeil von der Uni Salzburg spricht von einer "paradoxen" Regelung, die auf den ersten Blick sachlich schwer zu rechtfertigen sei: "Ziel der Mindestsicherung ist nicht, Vermietern Einnahmen zu garantieren, sondern Familien mit Bedarf zu helfen."

Die entsprechenden Passagen im neuen Gesetz sind allerdings komplex zu lesen, neue Erkenntnisse dürfte die angelaufene Begutachtung im Nationalrat bringen. Das Gesetz sieht zudem vor, dass Länder in Härtefällen zusätzliche Leistungen vorsehen können. Damit könnte die Stadt Wien auch für Familien mit vier Kindern oder mehr einen Verlust im neuen System ausgleichen – so sie das will. (András Szigetvari, 3.12.2018)