Dem "Verräter Macron" treten Demonstranten mit dem Hinweis auf den Hunger entgegen, den sie erlitten.

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Im 15. Jahrhundert warf Jeanne d'Arc die Briten aus Frankreich. Gut 600 Jahre später nimmt der Widerstand andere Formen an: Im Loiretal um Orléans sind die Radarfallen samt und sonders mit gelben Westen zugeklebt oder mit gelber Farbe überschmiert. "Das ist passiert, weil unser Präsident die Geschwindigkeit auf den Landstraßen von 90 auf 80 Stundenkilometer gesenkt hat", erklärt Charlène, die mit ihrem blonden Pagenschnitt fast als Jungfrau von Orléans durchgehen könnte.

Momentan sucht die an sich apolitische Einwohnerin von Orléans Arbeit. Derzeit muss sie mit nur 900 Euro auskommen, die sie durch einen Teilzeitjob verdient. Trotzdem ist sie während der Woche völlig ausgelastet; an diesem Dienstag kann sie daher an keiner Verkehrssperre der Gelbwesten teilnehmen. Dafür erzählt sie, wie ungerecht ihre Situation sei: "Ich arbeite mich zu Tode und habe am Monatsende ein Loch in der Brieftasche. Und wenn ich die Steuern nicht mehr bezahlen kann, gibt es noch einen Straftarif. Die wohlhabenden Leute bezahlen keine Straftarife, weil es gar keine Vermögenssteuer mehr gibt – die hat ihnen der Präsident erlassen."

Was denkt Charlène über die Aussetzung der Benzinsteuererhöhung, die Premierminister Édouard Philippe am Dienstag im fernen Paris verkündet hat? "Das ändert nicht viel. Die Steuer muss ganz fallen. Und selbst das würde nicht mehr genügen: Uns geht es um viel mehr. Das Produkt der Arbeit, das heißt der erschaffene Wohlstand, darf nicht länger nur an die Eliten in Paris gehen und die anderen auslassen."

Auch die politischen Abläufe müssten sich ändern, findet die wackere Mutter: Die Gelbwesten seien für die Einführung der "weißen Stimme". Gemeint ist damit die in Frankreich nicht vorgesehene Möglichkeit, einen leeren Wahlzettel in die Urne zu werfen, der dann als solcher ausgezählt wird. "Auf diese Weise wäre Macron nicht gewählt worden. Um die Extremistin Marine Le Pen zu verhindern, mussten die Leute für ihn stimmen. Dabei wollte die Mehrheit der Wähler beide nicht."

Distanz zur Gewalt

Man spürt es im ganzen Land: Der Zorn ist groß. Dass die Gelbwesten in Orléans an diesem Dienstagmorgen keine Verkehrsachsen sperren, hat einzig damit zu tun, dass sie selber arbeiten müssen. Am vergangenen Sonntag legten sie den großen Verkehrskreisel im Norden der Stadt lahm und ließen die Autos nur tropfenweise durch. Tags zuvor demonstrierten sie vor der Kathedrale der 110.000-Einwohner-Stadt, um sich mit einem friedlichen Marsch von den Gewaltexzessen in Paris zu distanzieren.

"Die Gewaltanwendung treibt mich zur Verzweiflung", meint Dominique, der seinen Nachnamen nicht angeben will, um sich nicht als Chef der Gelbwesten aufzuspielen. "Aber in Paris sitzt nun einmal die Macht. Dort wird alles entschieden." Der 59-jährige Erziehungsbeamte ist auch nicht gut auf Macron zu sprechen. "Der Präsident versteckt sich hinter dem Premier, der in der Ich-Form sagen muss, er ziehe die Steuererhöhung zurück. In Wahrheit knickt Macron ein. Das reicht nicht. Wir wollen den Kopf des Monarchen."

Hier in Orléans, wo Jeanne d'Arc den König gerettet hatte, klingt das schon bemerkenswert aus dem Mund eines gesetzten Funktionärs, der in wenigen Monaten in Pension gehen wird. "Macron hat für die Leute nur Arroganz und Verachtung übrig", findet Dominique, das Gesicht verziehend. In der Sache mache er die gleiche Politik wie seine Vorgänger: Wie schon Jacques Chirac spreche er über den "sozialen Bruch" , der durch die Gesellschaft gehe, mache aber nichts dagegen. "Dabei leiden die Leute wirklich. Gerade die, die arbeiten. Nicht einmal sie haben mehr genug zum Leben. Wenn man höhere Steuern verlangt, sind sie am Ende."

Dominique, der friedfertige Frühpensionist in spe, vergleicht den Aufstand der Gelbwesten mit einer "Jacquerie", einem der brutalen Bauernaufstände des Mittelalters. "Sie griffen zu den Heugabeln, weil ihnen die Steuerschergen die letzten Hühner und Schweine holten. Auch heute fühlen sich die Leute ausgenommen."

Die Suspendierung der Steuer durch die Regierung ändert nichts an Dominiques Entschlossenheit: "Wir bleiben mobilisiert." Es ist Nachmittag, der Gelbwestenträger muss weiter. Am Abend wird er mit anderen einen Kreisverkehr in einem Vorort besetzen. "Der Name ist noch geheim, damit uns die Polizei kein Schnippchen schlägt. Nur so viel: Der Bürgermeister des Ortes sagte, er wolle keine Gelbwesten in seinem Ort. Jetzt gehen wir ihm erst recht einen Besuch abstatten." (REPORTAGE: Stefan Brändle aus Orléans, 4.12.2018)